Seit Dienstag hängt der Haussegen in der Tenniswelt schief. Jannik Sinner – Nummer 1 der ATP-Rangliste – wurde im März, etwa zur Zeit des Masters 1000 in Indian Wells, zweimal positiv auf Clostebol getestet. Dabei handelt es sich um ein anaboles Steroid, ein Derivat von Testosteron, das seit dem 1. Januar 2015 auf der Liste der verbotenen Substanzen der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) steht, weil es den Aufbau von Muskelmasse und Kraft fördert.
Die positiven Tests wurden damals nicht veröffentlicht und Jannik Sinner wurde gemäss dem Welt-Anti-Doping-Kodex zweimal vorläufig suspendiert. Seine Saison ging jedoch weiter, da die vorläufigen Sperren sofort wieder aufgehoben wurden. «Der Spieler hat das Recht, einen unabhängigen Gerichtspräsidenten um die Aufhebung seiner vorläufigen Sperre zu bitten. Jedes Mal legte Sinner erfolgreich Berufung ein und konnte weiterspielen», erklärte die International Tennis Integrity Agency (ITIA) in einer Pressemitteilung.
Bei der anschliessenden Untersuchung wurden die Erklärungen des Beschuldigten als glaubwürdig taxiert. Jannik Sinner berief sich auf eine unfreiwillige Kontaminierung durch seinen Physiotherapeuten. Dieser habe – bevor er den Spieler massierte – ein Heilspray mit Clostebol verwendet, um eine Verletzung am eigenen Finger zu behandeln. Er kann sich nicht erinnern, sich die Hände gewaschen zu haben, und dies «führte zu einer Kontamination über die Haut», versicherte die ITIA, nachdem sie den Fall an ein unabhängiges Gericht weitergeleitet hatte.
Dieses Gericht unterstützte die Untersuchungsergebnisse und das wissenschaftliche Gutachten und kam zum Schluss, dass beim Italiener weder «ein Verschulden noch Fahrlässigkeit» vorliege. Jannik Sinner wurde daher entlastet und ist nicht suspendiert. Die Konsequenz war lediglich ein Punkteabzug – so verlor er die in Indian Wells erspielten Punkte.
Die Entscheidung der ITIA, Jannik Sinner nicht zu sperren, hat in der Tenniswelt für Diskussionen gesorgt. «Lächerlich, ob es nun ein Zufall war oder nicht. Wer zweimal auf eine verbotene Substanz getestet wurde, sollte für zwei Jahre suspendiert werden, weil die Leistungsfähigkeit gesteigert wurde», kritisierte der Australier Nick Kyrgios, der dafür bekannt ist, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Auch der Franzose Lucas Pouille äusserte sich:
Denis Shapovalov äusserte sich ebenfalls zur Causa Sinner: «Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich andere Spieler, die wegen Kontamination mit verbotenen Substanzen gesperrt wurden, derzeit fühlen», schrieb er. Er verwies dabei auf Simona Halep. Die Rumänin gab an, ein mit Roxadustat verunreinigtes Nahrungsergänzungsmittel eingenommen zu haben. Sie wurde für vier Jahre suspendiert – eine Strafe, die vom Internationalen Sportgerichtshof (CAS) auf neun Monate verkürzt wurde.
Und da wäre auch der Fall von Stefano Battaglino, dessen Geschichte derjenigen von Jannik Sinner ähnelt. Er wurde positiv auf die gleiche Substanz getestet, erhielt aber im November 2023 eine vierjährige Sperre. Battaglino, Nummer 760 der Welt, hatte angegeben, dass er Clostebol nicht absichtlich eingenommen habe. Er konnte die Behörden mit dieser Erklärung jedoch nicht überzeugen. «Es scheint unwahrscheinlich, dass ein professioneller Physiotherapeut einen Patienten behandeln würde, ohne sich vorher die Hände zu waschen», schrieb die ITIA in ihrem Bericht.
Die Frage lautet daher: Hätte die ITIA anders entschieden, wenn Stefano Battaglino die Nummer 1 der Welt und das Gesicht der neuen Generation gewesen wäre? Hat die ITIA – finanziert durch die ITF-, ATP-, WTA- und Grand-Slam-Turniere – im besten Interesse des Tennis gehandelt?
Nicht nur im Tennis, sondern auch in anderen Sportarten gibt es Personen, die aufgrund dieser Substanz gesperrt wurden. Der Sportarzt Dr. Jean-Pierre de Mondenard listet auf seiner Website mehrere auf: Der Basketballspieler Riccardo Moraschini hat ein Jahr Sperre abgesessen. Identische Strafe für den Fussballer Fabio Lucioni im Jahr 2018. Was haben sie gemeinsam? Die Athleten sind Italiener. In Italien wird die Trofodermin-Creme ohne Rezept in Apotheken verkauft. Dieses Produkt ist zur Behandlung von Schürfwunden, Verbrennungen und ulzerativen Hautläsionen geeignet – und enthält Clostebol.
Der aufsehenerregendste Dopingfall im Zusammenhang mit der Einnahme von Trofodermin betrifft eine Norwegerin: Langlaufstar Therese Johaug. Sie absolvierte gerade ein Praktikum in Livigno in Italien, als eine unerwartete Kontrolle ihre Karriere abrupt unterbrach. Sie hatte zuvor Trofodermin-Creme – die sie vor Ort von ihrem Arzt gekauft hatte – zur Behandlung von Lippenverbrennungen verwendet. Die norwegischen Anti-Doping-Behörden beantragten eine 14-monatige Sperre. Das Schiedsgericht für Sport verhängte daraufhin eine 18-monatige Sperre und verwehrte ihr damit die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Pyeongchang.
Der Physiotherapeut von Jannik Sinner verwendete das gleiche Medikament zur Behandlung seiner Fingerverletzung. Er verwendete es jedoch in Sprayform. In beiden Fällen wird auf der Verpackung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieses Produkt ein Risiko für Spitzensportler darstellt. Ein rotes Verbotsschild umrahmt den Schriftzug «Doping». Das Vorhandensein von Clostebol wird ebenfalls erwähnt.
Bei Jannik Sinner liege laut der International Tennis Integrity Agency «kein Verschulden oder Fahrlässigkeit» vor. Er wählt jedoch seinen Staff aus und hat seinen Physiotherapeuten rekrutiert: Giacomo Naldi, der ebenfalls Italiener ist und daher über die Skandale im Zusammenhang mit diesem Produkt in seinem Land informiert ist. So könnte auch argumentiert werden, dass Sinner eine Mitverantwortung trägt, insbesondere wenn man bedenkt, dass der Basketballspieler von Olimpia Mailand, Riccardo Moraschini, eine ähnliche Erklärung hatte, aber suspendiert wurde:
Die «Gazzetta dello Sport» veröffentlichte am Mittwoch ein Foto von Naldi in Jannik Sinners Loge in Indian Wells. Er trägt einen Verband an einem seiner Finger. Ein «Beweis» und ein «klares Zeichen» für die Unschuld des Spielers, heisst es in italienischen Medien. Der deutsche Fernsehsender Sport1 dämpft diese Begeisterung jedoch mit einem Zitat von Dr. Fritz Sörgel. Der bedeutende deutsche Pharmakologe bestreitet den Nutzen des Sprays:
Clostebol war in «geringen Mengen» in Sinners Urin vorhanden. «121 Pikogramm pro Milliliter» bei der ersten Kontrolle. «Selbst wenn die Verabreichung absichtlich erfolgt wäre, hätten die möglicherweise verabreichten Spurenmengen keine relevante doping- oder leistungssteigernde Wirkung auf den Spieler gehabt», erklärte Professor David Cowan, der die von der ITIA durchgeführte Untersuchung leitete.
Die «Sinner-Affäre» passt zu den Erkenntnissen des investigativ-Journalisten Edmund Willison, der im vergangenen Mai auf der Website von «Honest Sport» einen Artikel mit dem Titel «Italy’s Clostebol doping crisis across tennis, football and the Olympics» veröffentlichte. In Willisons Artikel heisst es, dass zwischen 2019 und 2023 38 italienische Athleten positiv auf Clostebol getestet wurden. Im Text kommt auch Luis Horta, der ehemalige Direktor der portugiesischen Anti-Doping-Agentur, zu Wort. Er äussert seine Befürchtung, dass bestimmte Sportärzte wissentlich Produkte auf Clostebol-Basis verwenden:
Luis Horta erklärt, dass Cremes auf Clostebol-Basis weniger wirksam sind als Testosteron-Gel, weist jedoch darauf hin, dass sie bei Wettkämpfen eine Rolle spielen können. Willison zititert auch einen Wissenschaftler eines von der Welt-Anti-Doping-Agentur anerkannten Labors:
Ein Polizeibeamter der Carabinieri sprach im Willisons Artikel über die Verwendung von Clostebol als Verdeckungsmittel.
Die jüngsten Dopingfälle – die ihren Ursprung in Italien haben und im Zusammenhang mit dieser Substanz stehen – machen das Thema «Sinner» noch heisser. Die Welt-Anti-Doping-Agentur behält sich das Recht vor, Berufung einzulegen. «Wir werden die Entscheidung überprüfen, um sicherzustellen, dass sie den Regeln entspricht. Und wir behalten uns das Recht vor, gegebenenfalls Berufung beim Schiedsgericht für Sport einzulegen. Wir werden daher in den kommenden Tagen und Wochen eine Entscheidung zu diesem Thema treffen», sagte das Gremium gegenüber Franceinfo.
Die italienische Anti-Doping-Agentur (NADO Italia) kann das Gleiche tun. Die ITIA hat bereits klargestellt, dass sie die Entscheidung zur Entlastung von Jannik Sinner nicht rückgängig machen wird.