Jüngst sorgte Stan Wawrinka in Shanghai wieder einmal international für Schlagzeilen. Nicht, weil ihm dort der sechste Sieg in diesem Jahr gelang, dem allerdings vierzehn Niederlagen gegenüberstehen, sondern weil er Opfer eines gravierenden Fehlers des Schiedsrichters Carlos Bernardes wurde.
Obwohl der Schweizer den ersten Punkt gewonnen hatte, zählte Bernardes 0:30 als Spielstand – und keiner der Beteiligten bemerkte den Fauxpas. Wawrinka gab danach seinen Aufschlag ab und unterlag dem Italiener Flavio Cobolli 7:6, 6:7, 3:6.
Nach seinem Sieg wählte der 22-Jährige salbungsvolle Worte. «Wawrinka ist eine Legende unseres Sports. Es war eine Freude, gegen ihn zu spielen», sagte Cobolli. Meist verliert Wawrinka, oft gegen deutlich jüngere Spieler wie Cobolli, die einst zu ihm aufsahen, ihn als Vorbild bezeichneten und das Skalp eines Sieges über ihn wie eine Trophäe vom Platz tragen.
2014 gewann Wawrinka die Australian Open in Melbourne, 2015 die French Open in Paris, 2016 in New York die US Open. Er war die Nummer 3 der Welt, hat 16 Turniere gewonnen und dabei über 37 Millionen Dollar an Preisgeld gesammelt. 2008 wurde er in Peking mit Roger Federer Olympiasieger im Doppel, 2014 gewannen sie gemeinsam den Davis Cup.
Stan Wawrinka ist einer der Grössten in der Geschichte des Männertennis. Doch seine grössten Erfolge liegen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurück.
Seit einem Jahr und den US Open 2023 hat er nie mehr zwei Partien in Folge gewonnen, sein letzter Turniersieg datiert vom Frühling 2017 in Genf. Inzwischen wird der Romand in der Weltrangliste nur noch im 236. Rang geführt. Im nächsten Jahr feiert Wawrinka seinen 40. Geburtstag. Doch schon jetzt ist er der älteste Spieler, der noch auf der ATP-Tour aktiv ist.
Lange profitierte er von einem geschützten Ranking, das ihm die Türe zu den grossen Turnieren aufhielt. Doch inzwischen ist diese Starthilfe, die er nach einer Verletzung am Fuss und mehreren Operationen in Anspruch nahm, aufgebraucht, ohne dass er daraus Kapital hätte schlagen können.
Kommende Woche spielt Wawrinka in Stockholm, danach bei den Swiss Indoors Basel. Beide Male ist das nur möglich, weil ihm die Veranstalter eine Wildcard offeriert haben. Es sind wohl die Wochen der Wahrheit.
Seit Monaten ist Wawrinka, abgesehen von kleineren Blessuren, gesund. Er trainiere gut, erreiche ein Spielniveau, das ihm den Glauben gebe, Spiele gewinnen zu können. Nur: Er tut es kaum. Auch Magnus Norman konnte daran nichts ändern, den Wawrinka vor rund zwei Jahren zurückgeholt hatte. Schon seit 2012 arbeiten die beiden mit Unterbrüchen zusammen. Der Schwede hat Wawrinka zum dreifachen Grand-Slam-Sieger geformt.
«Er kennt mich und mein Tennis am besten. Wir wollen das letzte Kapitel gemeinsam schreiben und das Buch zusammen schliessen», sagte Stan Wawrinka, als Norman im Herbst 2022 an seine Seite zurückkehrte. Das sportliche Ziel lautete damals, noch einmal ein Turnier zu gewinnen. Keines der grossen, sondern irgendeines. Doch das scheint illusorisch.
Niemand hat das Recht, Wawrinka zum Rücktritt aufzufordern. Er alleine bestimmt den Zeitpunkt. Er alleine entscheidet darüber, wie lange er Genuss an dieser Phase seiner Karriere findet. Niemand zweifelt an seiner Leidenschaft, seiner Hingabe, seinem Willen und seinem Erfolgshunger.
Doch auch Stan Wawrinka wird sich wohl im Winter die Frage stellen, ob er unter diesen Voraussetzungen eine weitere Saison bestreiten will. Oder ob er sich bald seinen zahlreichen weiteren Projekten neben dem Platz zuwendet und das Tennisracket für immer an den Nagel hängt.