Der grösste, über alle Länder und Meere hinweg, von Amerika über China bis Australien berühmteste Name in der Schweizer Delegation? Keine Frage: Stan Wawrinka. Der populärste Schweizer in Paris ist er sowieso.
Wer inzwischen fast immer verliert und doch beliebt und berühmt bleibt, hat den Adelsstand der Legende erreicht. Auch Delegationsleiter Ralph Stöckli hat sich hier in einem Nebensatz – wahrscheinlich hat er es gar nicht bemerkt – vor Stan Wawrinkas Magie verbeugt. Letzte Woche sagte er bei einer Plauderei über das olympische Dorf: «Ja, Stan Wawrinka hat auch im Dorf vorbeigeschaut!» Im Tonfall fast so, als wäre Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vorbeigekommen.
Stan Wawrinka, Doppel-Olympiasieger 2008 mit Roger Federer, wohnte früher auch im olympischen Dorf. Hier in Paris logiert der Fahnenträger von 2012 im Hotel. Er sagt, so sei es ihm leichter gefallen, sich zu konzentrieren. Weniger Ablenkung, mehr Energie.
Am Montag hat Wawrinka seinen Gegner in 50 Minuten vom Platz gefegt. Eine Machtdemonstration. Der wahre Stan Wawrinka. Zwei Tage später ist der Davis-Cup-Sieger von 2014 (mit Roger Federer) chancenlos. Nach 90 Minuten ist alles vorbei. Er verliert gegen den 14 Jahre jüngeren Australier Alexei Popyrin (4:6, 5:7).
Wawrinka ist erneut der Mann, der nicht mehr zweimal kann: Seit dem US Open im letzten Spätsommer hat «Stan the Man» nie mehr bei einem Turnier zweimal hintereinander gewonnen. Er ist soeben auch beim olympischen Turnier in der zweiten Runde ausgeschieden.
Wie kann das sein? Wie ist diese Ernüchterung nur 48 Stunden nach der vermeintlichen Auferstehung zu erklären? Ganz einfach: Es ist die Kombination aus Alter und Hitze gegen einen frischen, flinken und frechen Gegner.
Die Sonne scheint nicht. Sie brennt, glüht, knallt vom Himmel. Kein Windhauch bringt Kühlung. Weil es in den letzten Tagen geregnet hat, ist die Hitze mit Feuchtigkeit aufgeladen. Tropenhitze. Gut und gerne 40 Grad.
Die Hitze setzt Stan Wawrinka zu wie einem Velofahrer beim Aufstieg zum Mont Ventoux. Sie raubt ihm die Energie, die er als Treibstoff für sein Powertennis und für sein Selbstvertrauen braucht. Sein Charisma erlischt. Von der ersten Sekunde an ist klar, dass er dieses Spiel nicht gewinnen kann. Seine Schritte werden schwerer und schwerer. Wie bei einem alten Boxer.
Er hat zwar am Montag gesagt, er sei fit. Topfit sogar. Er ist nicht fit. Er zelebriert auch dann nicht die Leichtigkeit des Seins, wenn er in Bestform ist. Jetzt mahnt sein Spiel an die Mühsal des Lebens. Aber der Triumphator bei drei Grand-Slam-Turnieren gibt nicht auf. Er lehnt sich gegen das Schicksal auf. Aufgestachelt vom Publikum. Auf den Tribünen rund um den Court 14 ist jeder Platz und jeder Treppenabsatz besetzt. Das Publikum leidet mit ihm. Feuert ihn an. Feiert jeden Punktgewinn. Aber das Alter, die Hitze und der Gegner sind stärker. Drama.
Eine gute Stunde dauert es, bis er nach dem Spiel aus der Garderobe kommt. Er ist, logisch, enttäuscht und spricht von einer bitteren Niederlage. Er wirkt melancholisch. Mehrmals betont er, wie sehr er es zu schätzen wisse, dass ihn das Publikum so unterstützt habe. Als werde ihm bewusst, dass das Karriereende näher rückt.
Aber bei der Frage, wie es nun weitergehen soll, weist er die Gedanken eines Rücktrittes weit von sich. Ja, er gibt den Romantiker. Erzählt vom guten Leben, das er dank des Tennis habe, erwähnt wieder das Publikum und nach vorne blickend spricht er nicht von Wochen oder Monaten. Sondern von Jahren, die er noch zu spielen hoffe. Und warum nicht nächstes Jahr noch einmal hier in Roland Garros beim French Open? Ja, wahrlich ein Romantiker. Er wird im nächsten März 40 Jahre alt. «Männer, die in den Stiefeln sterben» heisst ein Western aus den 1950er-Jahren. Ist das auch Stan Wawrinkas Tennis-Schicksal?
Das Loslassen und die Rückkehr in ein normales Leben werden ihm nicht leichtfallen. Also spielt er weiter, immer weiter. Und warum denn nicht das, was seine Leidenschaft ist, das, was er immer noch am besten kann, so lange wie nur möglich pflegen? Die Götterdämmerung seiner Karriere hat zwar längst begonnen. Aber sie kann noch lange anhalten und durchaus lohnend sein. Im Herbst bekommt er ja bei den Swiss Indoors in Basel 100'000 Franken Antrittsgeld. Das darf er auch dann behalten, wenn er gleich in der ersten Runde rausfliegt.
Aber bei den Olympischen Spielen in vier Jahren in Los Angeles wird er nicht mehr dabei sein. Wir haben seinen letzten olympischen Tango gesehen. Als er in die Garderobe zurückgeht, gewährt er einigen Volontierenden geduldig und freundlich ein Selfie. Sie sollten die Bilder gut aufbewahren. Es sind historische Fotos. Die letzten von Stan Wawrinka auf olympischem Gelände.
Auch Nino Schurter (38) ist sein letztes Olympia-Rennen gefahren. Mit Wawrinka und Schurter gehen zweimal Gold, einmal Silber und einmal Bronze.
Mathias Flückiger gehört ebenso zu den tragischen helvetischen Helden von Paris. Keine Medaille für den Silber-Biker von Tokio. Aber er ist erst 35. Er hat noch einige Rechnungen offen und ist auf einer Mission. Los Angeles 2028 heisst ein grosses Ziel. Dort wäre dann er – so wie jetzt Stan Wawrinka – der leidende, letzte olympische Romantiker.
Mag sein, dass die Bronze-Medaille der jungen Schützin Audrey Gogniat das Schweizer Highlight der ersten Woche ist. Aber die besten Geschichten der ersten Tage haben auf ihre ganz besondere Art und Weise Mathias Flückiger, Nino Schurter und Stan Wawrinka geschrieben.