Daran, mit Schmerzen zu spielen, ist Rafael Nadal gewöhnt. Auch daran, regelmässig Turniere auslassen zu müssen, weil er verletzt ist. Seit seinem Aus in der zweiten Runde der Australian Open Mitte Januar, wo ihn eine muskuläre Verletzung an Hüfte und Leiste einschränkten, hat der Spanier keine Partie mehr bestritten. Dass er jüngst vermeldete, in dieser Woche nicht in Monte Carlo anzutreten, warf deshalb keine grossen Wellen.
Dabei ist die Geschichte diesmal nicht jene eines fragilen Körpers. Die Verletzung täuscht darüber hinweg, dass sich Nadal schon zuvor in einer sportlichen Baisse von bemerkenswertem Ausmass befand. Seit Juli 2022 kommt der 22-fache Grand-Slam-Sieger bei sechs Turnieren auf fünf Siege bei acht Niederlagen. Zwei Mal schied er gar in der ersten Runde aus.
Wenn er spielte, war Rafael Nadal seit Monaten ein Schatten seiner selbst.
Wie viel das mit einschneidenden Veränderungen in seinem Privatleben zu tun hat, lässt sich nicht beantworten. Offensichtlich – und nur allzu verständlich – ist, dass sich seit der Geburt des ersten Sohnes im Oktober etwas verändert, die Prioritäten sich verschoben haben. Dazu kommt, dass die Schwangerschaft nicht ohne Komplikationen verlaufen war.
Neben der technischen und taktischen Raffinesse lebte Nadals Spiel stets von seinem Kampfgeist, manche möge sagen: von seiner Verbissenheit. Es wäre vermessen, zu behaupten, diese sei einer Gleichgültigkeit gewichen, vielmehr ist Nadals Leben vielfältiger, reicher, komplexer geworden. Siege und Rekorde auf dem Tennisplatz verlieren dadurch an Bedeutung.
Vor den Australian Open sagte Nadal: «Ich weiss nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Was ich weiss, ist, dass ich das Tennis geniesse.» Körperlich wähnte er sich in einer blendenden Verfassung - ehe ihn eine Verletzung ausbremste. Nadal sagt: «Wer glaubt, ich sei vom Siegen besessen, irrt sich. Wenn ich von etwas besessen bin, dann vom Wettkampf.» Eine Obsession, die er auch anderswo ausleben kann, beim Golfen zum Beispiel: Im letzten Sommer wurde Nadal bei den balearischen Meisterschaften Fünfter.
Rafael Nadal fehlte immer wieder länger, immer wieder wurde sein nahes Ende herbeigeredet. Doch eine Gewissheit - ob Zufall oder nicht - gab es immer: Wenn im Frühling auf seiner bevorzugten Unterlage Sand gespielt wurde, war er immer bereit. Von den Turnieren in Monte Carlo, Barcelona, Madrid und Rom, die er im Vorfeld der French Open jeweils zu spielen pflegt, hat er in den letzten 18 Jahren bis 2022 nur ein einziges verpasst: 2010 verzichtete er wegen Müdigkeit auf die Teilnahme in Barcelona.
Im letzten Jahr verpasste Nadal dann gleich zwei der wichtigsten Turniere seiner Karriere: Monte Carlo, wo er elf Mal gewann, und Barcelona, wo er mit zwölf Titeln ebenfalls Rekordsieger ist. Damals aber hatte Nadal den besten Saisonstart seiner Karriere hinter sich - mit Turniersiegen bei einem Vorbereitungsturnier in Melbourne, bei den Australian Open, in Acapulco und dem Finalvorstoss beim Masters-Turnier in Miami.
Diesmal ist alles anders: Mitte März fiel Rafael Nadal nach 912 Wochen am Stück erstmals aus den Top 10 der Weltrangliste zurück. Seit dem 25. April 2005 gehörte er während fast 18 Jahren ununterbrochen dem erlauchten Kreis an. Bei den Männern wohl eine Rekordmarke für die Ewigkeit.
Im Vorjahr erlebte Nadal noch einmal einen Höhenflug, gewann nach den Australian Open in Paris seinen 22. Grand-Slam-Titel. Dort spielte er mit betäubtem Fuss, kurz darauf konnte er in Wimbledon nicht zum Halbfinal antreten. Es war der Anfang seiner Malaise, die bis heute anhält.
In diese Zeit fällt auch der Rücktritt von Roger Federer. Als Nadal damals in London auf einer Bank sitzend dem Schweizer die Hand hielt, steckte er bereits in einem Teufelskreis. Dass er danach sagte, «mit Roger geht ein wichtiger Teil meines Lebens», war Indiz dafür, dass Nadals Tränen auch damit zu tun hatten, dass er sich mit dem nahenden Ende seiner eigenen Karriere konfrontiert sah. Zumal die Bereitschaft, Schmerzen auszuhalten und Verletzungen hinzunehmen, seither noch einmal zugenommen hat.
Und trotz allem sollte niemand überrascht sein, wenn Nadal spätestens in Paris noch einmal alles aus seinem Körper herauszupressen versucht. Und diesmal vielleicht tatsächlich ein allerletztes Mal. Im Juni wird Nadal 37. (aargauerzeitung.ch)