Die Schlappe wird Wawrinka während der Saisonpause bis zu den ersten Turnieren im Januar zu denken geben. Denn drei der letzten vier Duelle gegen Murray hatte Wawrinka gewonnen. Vor drei Jahren in Monte Carlo deklassierte er den Schotten auf Sand sogar 6:1, 6:2. In 17 Direktbegegnungen mit Murray verlor Wawrinka nur einmal noch deutlicher: Am US Open 2008 ging der Waadtländer in den Achtelfinals mit 1:6, 3:6, 3:6 unter. Danach verabschiedete sich Wawrinka für fünf Jahre aus den Top 10 der Weltrangliste, ehe er sich ab 2013 unter der Ägide von Magnus Norman, dem ATP Coach des Jahres 2016, endlich aufmachte, die Welt zu erobern.
Die Niederlage am Freitag gegen Andy Murray wäre für Stan Wawrinka weniger schlimm, wenn er wie am Montag gegen Kei Nishikori schwach, ohne Kampfgeist und ohne Emotionen gespielt hätte. So war es aber ganz und gar nicht. Wawrinka trumpfte am Anfang gross auf. Er spielte in der Startphase wie in einem Grand-Slam-Final gegen Novak Djokovic. Den 10'000 Fans in der prächtigen Londoner Arena, die grösstenteils Andy Murray die Daumen drückten, wurde es Angst und Bange.
— doublefault28 (@doublefault28) 18. November 2016
Denn Wawrinka dominierte während der ersten halben Stunde die Ballwechsel. Er stellte wieder einmal unter Beweis, dass er in der Offensive mit der Vorhand und der Rückhand schier unglaubliche «Geschosse» aus dem Ärmel schütteln kann, und dass er als «Shotmaker» kaum zu übertreffen ist. In den ersten sieben Games gelangen Wawrinka gegen einen in dieser Phase überforderten Gegner 18 Gewinnschläge. John McEnroe meinte im britischen Fernsehen, er könne sich nicht vorstellen, wie Wawrinka den ersten Satz nicht gewinnen könne. Und Murray erwähnte nach der Partie, dass man gegen Wawrinka, wenn der gut spielt, als Gegner nichts machen könne.
Wenig später das andere Bild. Wawrinkas Bälle fliegen am Ziel (sprich: am Feld) vorbei. «Stan the Man» verliert zuerst die Nerven, dann den Aufschlag, schliesslich die Contenance und am Ende die Partie. Nur eine halbe Stunde nach der ersten Aussage kann sich McEnroe nicht mehr vorstellen, wie Wawrinka noch gewinnen will. Und Murray sagte am Ende, im Tennis gehe es manchmal eben schnell.
Was war passiert? Wawrinka brachte trotz aller Vorteile im siebenten Spiel den Aufschlag nicht durch. Drei schnelle Fehler ermöglichten Murray den ersten Breakball, den der Brite nützte, weil sich Wawrinka gleich zweimal für den falschen Schlag entschied. Wawrinka verlor zu Beginn des zweiten Satzes zwei weitere Aufschlagspiele. Er zerlegte sein Racket in zwei Teile und wurde selber von der Nummer 1 der Welt auseinandergenommen.
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Wawrinka wurde von Murray der Unterschied zwischen der Nummer 1 und der Nummer 4 vor Augen geführt. Nach dem US Open befanden sich Murray und Wawrinka mit je drei Grand-Slam-Titeln scheinbar auf Augenhöhe. Seither hat Murray fast nur noch gewonnen. Der Sieg gegen Wawrinka war der 22. Einzelsieg hintereinander. Wawrinkas Resultate dagegen blieben unter den Erwartungen. Er musste sich an frühe Niederlagen gewöhnen. Wawrinka beendet die Saison als Nummer 4 oder Nummer 5 der Welt. Milos Raonic hat ihn in London bereits überholt, und auch Kei Nishikori kann noch an Wawrinka vorbeiziehen.
Obwohl er sich das Ende natürlich schöner vorgestellt hat, wertete Wawrinka die Saison 2016 als vollen Erfolg. Wie sagte doch Ferdinand von Schill schon vor über 200 Jahren (1809): «Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.» Wawrinka geht davon aus, im Januar in Australien der Weltspitze wieder näher zu sein als zuletzt im Herbst. 2016 überstrahlte in Wawrinkas Bilanz der US-Open-Triumph alles. Der 31-jährige Schweizer gewann insgesamt vier Turniere (Chennai, Dubai, Genf, US Open), erstmals eines in der Heimat und drei in den ersten fünf Monaten der Saison.
Das Masters zeigte Wawrinka aber auch, wo er im Training den Hebel ansetzen muss. In der Offensive macht ihm niemand etwas vor. Aber Andy Murray und Novak Djokovic, die Leader der Tennis-Branche, verteidigen sich viel besser als Wawrinka. Sie sind ihm läuferisch überlegen. Und sie zeichnen sich an den Turnieren durch viel mehr Konstanz aus. Wawrinka: «Ich weiss, dass ich alle schlagen kann. Aber nicht an jedem Tag.»
Am Masters geht es übers Wochenende weiter um die Nummer 1 der Welt. In den Halbfinals kommt es zu den Duellen Andy Murray gegen Milos Raonic und Novak Djokovic gegen Kei Nishikori. Im Duell Murray versus Djokovic behält derjenige die Nase vorne, der in London besser abschneidet. Wenn beide in den Halbfinals ausscheiden, bleibt Andy Murray die Nummer 1.
Eine Nummer 1 hat der Murray-Clan unter dem Weihnachtsbaum bereits auf sicher. Jamie Murray, der ältere Bruder von Andy, sicherte sich mit dem Brasilianer Bruno Soares den Titel für das erfolgreichste Doppel-Team der Saison. Die Franzosen Pierre-Hugues Herbert/Nicolas Mahut hätten nur ein Gruppenspiel gewinnen müssen, um sich an der Spitze der Rankings zu halten. Sie verloren indessen alle drei Partien und schieden aus. Die Weltrangliste im Doppel wird Bruno Soares vor Jamie Murray als Nummer 1 beenden, weil er auch noch mit seinem Landsmann Marcelo Melo zusammen punktete (im Davis Cup plus Halbfinal in Stockholm). (sda)