Fast viereinhalb Stunden waren gespielt, als Stan Wawrinka die Zuschauer auf dem Court Simonne-Mathieu, einer Symbiose aus Gewächshaus und Stadion, noch einmal animierte. Alle standen auf, noch einmal hallten die «Wawrinka, Wawrinka»-Rufe durchs Rund. Und Wawrinka? Lächelte.
Stan Wawrinka ist in Saint-Barthélemy, einem Dorf mit 700 Einwohnern, auf einem Bio-Bauernhof aufgewachsen, inmitten von Kühen, Schafen, Hühnern und mit Behinderten. Er war schüchtern und unauffällig, galt nie als grosses Talent, dafür als harter Arbeiter. Die Oberflächlichkeiten des Tenniszirkus waren ihm fremd. Lange fühlte er sich wie ein Aussenseiter.
Nach fast jedem Ballwechsel sucht er den Austausch mit den Zuschauern, lächelt ihnen zu, verwickelt sie in kurze Dialoge, jubelt nicht über sich, sondern mit ihnen. Wenn die Welle, die sie um den Court haben tanzen lassen, abebbt, beklatscht er das, weil er sich als Teil des Spektakels sieht. Wawrinka tut, was das Publikum liebt: Er lässt sein Herz auf dem Platz.
An diesem Frühlingsabend verdichtet sich die Essenz einer erstaunlichen Metamorphose: Aus Stan Wawrinka, dem Jungen, der das Rampenlicht scheute, dem Applaus unangenehm war, aus diesem Petit Suisse ist der Chouchou, geworden, der Liebling der Pariser Masse. Wawrinka als Unterhalter, Artist, Showman. Und grösste Attraktion im Wanderzirkus.
Erst vor etwas mehr als einem Jahr kehrte er nach zwei Operationen am Fuss und einer einjährigen Pause in den Tenniszirkus zurück. Kurz vor seinem 38. Geburtstag stiess er wieder in die Top 100 der Weltrangliste vor. Bei den French Open in Paris gewann er erstmals seit zweieinhalb Jahren wieder ein Spiel bei einem Grand-Slam-Turnier. Eine Erlösung.
Zwar unterlag Wawrinka dem Australier Thanasi Kokkinakis (27, ATP 108) nach 4:38 Stunden in einer begeisternden Partie mit 6:3, 5:7, 3:6, 7:6, 3:6. Doch er hat die Gewissheit, sich wieder mit den Besten messen zu können, auch wenn er wisse, dass er vermutlich nicht mehr der Spieler werde, der er einmal war und drei verschiedene Grand-Slam-Turniere gewonnen hat.
Wawrinka wurde im März 38. Er weiss, dass seine Karriere sich dem Ende zuneigt, «und das Publikum weiss es auch. Gerade deshalb spüre ich in den letzten Jahren eine enorme Unterstützung, die mich sehr berührt. Das Publikum und ich, wir geniessen diese kostbaren Momente gemeinsam.» Weil sie immer auch von einem Hauch von Endlichkeit umweht werden, der sich Wawrinka nicht entziehen kann. Der er sich nicht entziehen will.
Doch – und das stellte er an diesem Mittwochabend unmissverständlich klar: Es soll nicht das letzte Kapitel in Paris gewesen sein. Ja, er sei 38 Jahre alt und in zwölf Monaten könne viel passieren, aber wenn alles gut gehe, werde man ihn auch 2024 in Paris sehen: «Ich bin nicht zurückgekommen, um nur noch ein Mal hier zu spielen und auf Wiedersehen zu sagen.»
Als er den Platz verliess, hallten noch einmal die «Wawrinka, Wawrinka»-Rufe über den Court Simonne-Mathieu, er hob den rechten Arm, klopfte sich auf die Seite der Brust, unter der sein Herz schlägt, winkte der Menge zu und formte mit den Händen ein Herz. Stan Wawrinka, die Attraktion im Wanderzirkus, will wiederkommen – und das Pariser Publikum auf seine wundersame Reise mitnehmen. Ein weiteres, vielleicht letztes Mal.
Auf hoffentlich noch einige 5-Sätzer, auf verlorene Nerven und "Finger an der Schläfe" Jubel. Fail again, fail better.