Nick Kyrgios hat einen Lauf. Von seinen letzten 21 Matches hat der 27-jährige Australier 19 gewonnen. Nur gegen Novak Djokovic im Wimbledon-Final und gegen Rasenspezialist Hubert Hurkacz im Halle-Halbfinal musste sich der exzentrische «Bad Boy» geschlagen geben. Und auch seine Saisonbilanz von 30:7 kann sich durchaus sehen lassen – die Siegquote von 81,1 Prozent toppen derzeit nur Rafael Nadal (92,1), Carlos Alcaraz (84,0) und Djokovic (82,1).
Beim Masters-1000-Turnier in Montreal setzte Kyrgios in dieser Woche ein weiteres Ausrufezeichen. Trotz Verlust des ersten Satzes bodigte die aktuelle Weltnummer 37 den letztjährigen US-Open-Sieger Daniil Medwedew in drei Sätzen. Verlor Kyrgios früher nach solchen Exploits in grossen Matchen gerne die Konzentration, schafft er es in diesem Sommer den Fokus zu halten. Im Achtelfinal liess er gegen seinen Landsmann Alex De Minaur beim 6:2, 6:3 eine Galavorstellung folgen.
Nach seinem Turniersieg beim ATP-500-Turnier in Washington – dem ersten seit über drei Jahren – gilt Kyrgios nun auch in Montreal und fürs bevorstehende US Open als ernsthafter Anwärter auf den Titelgewinn. Doch wie lässt sich diese unerwartete Wandlung erklären?
Zum einen hat sich während der Corona-Pandemie Kyrgios' Einstellung gegenüber seinem Sport verändert. Anfang Jahr hatte er sich den Vorsatz genommen, «so professionell zu sein», wie er es kann. «Ich habe mich entschieden, dass ich einen richtig guten Trainingsblock abliefern wollte und von dann liefen die Dinge richtig gut.» Mit Kumpel Thanasi Kokkinakis gewann der Aufschlagshüne gleich die Doppel-Konkurrenz beim Australian Open. Das verlieh ihm nicht nur neuen Schwung, sondern auch die Motivation, weiter hart an sich zu arbeiten.
Umstellungen gab es auch in seinem Team: «Mein Physio ist in Vollzeit bei mir. Das war vergangenes Jahr infolge der Corona-Pandemie nicht möglich», erklärte Kyrgios nach seinem Sieg in Washington. Dadurch könne er sich besser denn je auf seine Matches vorbereiten. «Zuvor war es schwer für mich, meinen Körper zu managen. Jetzt arbeite ich täglich zwei bis drei Stunden daran.»
Positiven Einfluss auf den Mann der Stunde scheint auch seine neue Beziehung zu haben. Nach der turbulenten Beziehung mit dem australischen Model Chiara Passari ist Kyrgios seit Ende letzten Jahres mit Influencerin Costeen Hatzi zusammen. Die beiden verbringen fast jede trainingsfreie Minute miteinander und wollen bald heiraten. Sogar ein gemeinsames Kind ist schon Thema.
Trotz aller neuer Vorsätze ist Kyrgios auf dem Tennisplatz aber weiterhin sich selbst geblieben. Er serviert immer mal wieder von unten, schlägt unnötige Tweener, regt sich auf dem Platz über Belanglosigkeiten auf und legt sich mit Fans und Schiedsrichter an. Für den renommierten Tennis-Trainer Patrick Mouratoglou gehört das aber einfach zu seinem Spielstil. «Ich glaube nicht, dass es ein Problem ist, wenn Kyrgios laut wird – ich denke, das Gegenteil ist der Fall», erklärte der Franzose zuletzt gegenüber tennismajors.com. «In gewisser Weise schafft er Probleme, weil er sie braucht, um das Beste aus sich herauszuholen.»
Ähnlich sieht es auch Kyrgios selbst: «Ich werde auf dem Court weiterhin tun, was immer ich will und so spielen, wie ich es möchte – ob die Zuschauer mich dafür mögen oder nicht», stellte er in Montreal mal wieder klar. Neben dem Platz will er seiner neuen Devise aber treu bleiben und beim US Open alles auf die Karte Sieg setzen. Die beiden Wochen in New York seien «massiv wichtig», er werde «nichts im Tank» lassen: «In der Woche zuvor werde ich zudem kein Turnier spielen, um mich zu erholen und mein Training zu organisieren.»
Er tut gut daran, denn die Chancen auf den ersten Grand-Slam-Titel scheinen für Kyrgios so gross wie noch nie. Er selbst befindet sich in Topform, während der Rest der Weltspitze mit Problemen zu kämpfen hat. Titelverteidiger Medvedev, Alacaraz und Stefanos Tsitsipas befinden sich in einem Formtief, Rafael Nadal und Alexander Zverev sind körperlich angeschlagen und Djokovic darf wegen fehlender Impfung in «Flushing Meadows» nicht antreten.
Ein kleines Manko hat Kyrgios in dieser Woche in Montreal gleich selbst eliminiert. Dank seines Siegs gegen De Minaur ist der Australier beim US Open definitiv gesetzt und kann so einem frühen Duell mit einem Topspieler aus dem Weg gehen. Das spart nicht nur körperliche, sondern auch mentale Energie. Bei Kyrgios ein nicht zu unterschätzender Faktor. Schliesslich ist bei ihm nie garantiert, dass er nicht bald wieder in alte Fahrwasser zurückfällt.
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