Es gibt diese überlieferte Anekdote. Andrej Hauptman, einst ein slowenischer Radprofi und heutiger Trainer, schaute einem Jugendrennen in seiner Heimat zu. Er fragte die Umstehenden, was es mit dem schmächtigen blonden Elfjährigen auf sich habe, er strample ja den anderen Jungs hoffnungslos hinterher. Die Antwort: Dieser Junge sei schon beim Start allen davongeprescht. Nun sei er kurz davor, die abgehängten Kinder zu überrunden.
Der Junge hiess Tadej Pogacar. Heute ist er der beste Velofahrer der Welt. Der 25-jährige Slowene lässt in der 20. Etappe der Tour de France am Ende auch am Samstag die gesamte Konkurrenz – allen voran Jonas Vingegaard – stehen und gewinnt seine fünfte Etappe. Nun steht er unmittelbar davor, zum dritten Mal die Tour de France zu gewinnen. Der Triumph ist nur noch Formsache, vor dem abschliessenden Zeitfahren führt er 5 Minuten und 14 Sekunden vor seinem Konkurrenten Vingegaard.
Geht es bergauf, dann ist Pogacar fast nicht zu schlagen. Vielleicht wurde diese Fähigkeit dem Kletterer in die Wiege gelegt. Seine Mutter Marjeta stammt aus dem Dorf Gora, was auf slowenisch «Berg» heisst. Sein Vater kommt aus Klanec, was so viel wie «Steigung» bedeutet. In Klanec bei Komenda, rund 20 Kilometer nördlich der slowenischen Hauptstadt Ljubljana, wächst Tadej Pogacar als drittes von vier Kindern auf. Er hat zwei Schwestern und einen um zwei Jahre älteren Bruder, Tilen.
Zuerst gilt das Interesse dem Fussball. Tadej beginnt im lokalen Klub, mit dem Ball ist der schmächtige Junge durchaus talentiert. Daneben fährt er mit Bruder Tilen Einrad. Seine Mutter Marjeta erzählt im Velomagazin Rouleur: «Sie waren wie Clowns im Zirkus und hier in der Gegend berühmt, viele Leute schauten zu und bewunderten sie, wenn sie vorbeikamen.» Der Karriere der beiden Artisten wird ein jähes Ende gesetzt, weil die Einräder der Familie gestohlen werden.
Tilen beginnt mit dem Velofahren, Tadej eifert seinem älteren Bruder nach. Fährt «Little Pogi» Velo, stellt er sich manchmal vor, sein Idol Alberto Contador zu sein. Dann spielt er dessen Triumphe beim Giro d'Italia und der Tour de France nach. Pogacar ist rasch weiter als andere Kinder in seinem Alter. Angespornt ist er vom Ehrgeiz, seinen älteren Bruder übertreffen zu wollen.
Back when I was a small kid with big dreams 😁
— Tadej Pogačar (@TamauPogi) June 30, 2022
Tomorrow begins another dream @LeTour 🇫🇷#ThrowbackThursday pic.twitter.com/lPo3BV01Qm
Nachdem Hauptmann ihn entdeckt, fördert er das Talent. Der Weg Pogacars an die nationale und internationale Spitze verläuft geradlinig. Heftige Stürze oder sonstige Probleme gibt es nie, sagt Hauptman später. «Er ist immer aufmerksam, konzentriert und zur richtigen Zeit am richtigen Ort.»
2019 gibt Pogacar sein Profidebüt bei der Tour Down Under in Australien. Am Tag der Abreise stellt er fest, dass er seinen Reisepass verloren hat. Das Team setzt sich mit der Botschaft in Verbindung, Pogacar kann nicht reisen. Teammanager Allan Peiper erzählt später, dass Pogacar nicht in Panik ausgebrochen sei. «Er blieb fröhlich und freundlich. Auch wenn er einen Tag länger bleiben musste, kam er damit klar. Ich habe gesehen, wie entspannt er unter Druck war. Ich denke, das ist eine seiner stärksten Eigenschaften.»
Der Umgang mit Druck scheint für Pogacar leicht zu sein. Die Erwartungshaltungen an ihn steigen, der Erfolg wird grösser. 2019 gewinnt er die Kalifornien-Rundfahrt, ist mit 20 in den USA noch zu jung, den Champagner auf dem Podium trinken zu dürfen. Im selben Jahr wird er Dritter an der Vuelta a España. 2020 siegt er als jüngster Velofahrer seit 116 Jahren in der Tour de France. Im Jahr darauf bestätigt er den Erfolg. Und nach zwei Jahren Pause gelingt ihm nun wohl sein dritter Streich.
Während viele der Konkurrenten, allen voran der zweimalige Tour-Sieger Jonas Vingegaard, 2024 mit Problemen kämpfen, läuft es bei Pogacar. Er gewinnt bei der Katalonien-Rundfahrt, auf der Strade Bianche und bei Lüttich-Bastogne-Lüttich. Vor allem aber holt er sich den Sieg beim Giro d'Italia mit sechs Etappensiegen. Und nun steht er vor dem grosse Double der beiden wichtigsten Rundfahrten. 1998 ist dies Marco Pantani zum letzten Mal gelungen. Es war in der Blüte des Dopings im Radsport. Später wurde nachgewiesen, dass Pantani mit Epo gedopt hat.
Immer wieder gibt es ähnliche Zweifel an Pogacar. Mit seinen Fabel-Zeiten zertrümmert er Rekorde, pulverisiert selbst solche, die in Dopingjahren aufgestellt wurden. Während dieser Tour braucht er beim Anstieg auf das Plateau de Beille lediglich 39 Minuten und fünf Sekunden. Den Rekord auf jener Strecke hatte zuvor Pantani aufgestellt, er hatte fast vier Minuten länger gebraucht.
Dazu kommt, dass Pogacars Mentoren nicht den besten Leumund haben. Andrej Hauptman wurde einst gesperrt, weil seine Werte Blutdoping nahelegten. Und im Management seines Teams hat der Tessiner Mauro Gianetti das Sagen, der in den dopingverseuchten Nullerjahren die Skandalequipe Saunier Duval dirigierte.
Nachgewiesen wurde Pogacar nie etwas. Vieles liege an der Ernährung, erklärt er jeweils, wenn er darauf angesprochen wird. Der verstorbene Schweizer Veloprofi Gino Mäder, der sich schon in der Jugend mit Pogacar mass, erzählte in einem Interview mit CH Media im Frühling 2023: «An der Tour de Léman 2012 war Tadej ein etwas dicklicher junger Fahrer. Im Feld wurde er ein wenig belächelt, dann fuhr er allen davon. Er hatte schon immer diese Brillanz und diese Leichtigkeit. Weil die Differenz zwischen ihm und mir stets gleich geblieben ist, vertraue ich ihm zu 100 Prozent.»
Im Peloton geniesst Pogacar mit seiner leichtfüssigen und freundlichen Art einen guten Ruf. Harmonie ist ihm wichtig. Das zeigte sich schon als Kind. Sobald sich ein Streit in der Familie anbahnte, versuchte er alle aufzuheitern. «Er spielte den Clown und brachte uns zum Lachen», sagt Mutter Marjeta.
Pogacar soll rund sechs Millionen Franken pro Jahr verdienen, an seinem Handgelenk trägt er während der Tour eine Schweizer Armbanduhr im Wert von 330'000 Franken. Dennoch wird der 25-Jährige oft als bodenständig und höflich beschrieben. In seiner Familie in Slowenien wird Arbeit gross geschrieben. Seine Grosseltern waren Bauern, alle mussten mithelfen. Sein Vater war Produktionsleiter in einer Stuhlfabrik, seine Mutter Französischlehrerin an einer Schule.
Tadej Pogacar hat ein Motto. «Never quit trying and never give up.» Nie aufhören, es zu probieren. Nie aufgeben. Auf seiner Website verkauft er T-Shirts und Pullis mit diesem Spruch drauf. Fährt er Rad, gibt er nie auf. Aufgegeben hat er auch nicht bei seiner Liebe. Als er im Februar 2017 im Trainingslager Urska Zigart kennenlernt, sind die beiden zunächst nur Freunde. Für Zigart ist der um zwei Jahre jüngere Pogacar zu jung. Später verliebt sie sich dennoch, die beiden sind inzwischen verlobt. Zigart ist ebenfalls Veloprofi, fährt für das australische Team Liv Alula Jayco.
Pogacar scheint vieles leicht zu fallen. Vieles ist noch so wie damals, als er einmal während der Schule aus dem Fenster blickte und sein Lehrer ihn fragte, was er denke. «An die Trainingsstrecke, die ich heute Nachmittag fahren werde.» Die Begeisterung scheint immer noch in ihm zu stecken, wenn Tadej Pogacar als Schnellster der Welt die Berge hoch radelt.