Der Juli ist alljährlich der Höhepunkt der Dopinggerüchte. Keine Tour de France vergeht, ohne dass nicht die Leistungen der Topstars in Frage gestellt werden, ob berechtigt oder nicht.
Am Sonntag knackte der Gesamtführende Tadej Pogacar hinauf zum Plateau de Beille einen Rekord des Italieners Marco Pantani, den der «Pirat» in der berüchtigten EPO-Ära aufgestellt hatte. Der Slowene Pogacar bewältigte den knapp 16 Kilometer langen und im Schnitt fast 8 Prozent steilen Anstieg 3:44 Minuten schneller – trotz Gegenwind.
Das ist auf diesem Niveau eine Weltreise. Der Blog «Lanterne Rouge» schrieb von der «besten Kletterleistung in der Geschichte des Radsports» und stützte sich dabei auf Berechnungen, die zeigten: Pogacar erbrachte während knapp 40 Minuten eine Leistung von 6,98 eW/kg. Und das am Ende einer äusserst harten Etappe, auf der auf 198,5 Kilometern über 5000 Höhenmeter zu bewältigen waren.
Jonas Vingegaard, der Vorjahressieger und aktuelle Gesamtzweite, erreichte das Ziel an diesem Berg 1:08 Minute nach Pogacar. Auch seine Leistung war aussergewöhnlich gut. «Ich war super, super stark am letzten Berg und das war eine der besten Leistungen meines Lebens», hielt Vingegaard fest. Aber Pogacar war eben noch besser, und das, obwohl es ein sehr heisser Tag war.
Wie ist das möglich? Am Stammtisch und in den Kommentarspalten ist die Antwort rasch gefunden: Doping.
Wer dieser Meinung ist, für den kommen die jüngsten Enthüllungen gelegen. Das «Escape Collective» hat vor wenigen Tagen aufgedeckt, dass mehrere Teams, darunter UAE-Emirates von Pogacar und Visma – Lease a Bike von Vingegaard, mit Kohlenstoffmonoxid experimentieren. Verboten ist das nicht.
Die Equipen verwenden rund 50'000 Euro teure Kreislaufgeräte, sogenannte Kohlenmonoxid-Rebreather. Sie beteuern, dass sie die Geräte für die Leistungsdiagnostik verwenden. «Es ist keine Therapie, sondern ein Diagnose-Tool», erklärte Adriano Rottuno, der Chefarzt von UAE. Zu Beginn und am Ende eines Höhentrainingslagers werden mit dem Gerät Messungen durchgeführt, um die Fortschritte festzuhalten. «Da ist nichts Verdächtiges dran», sagte Jonas Vingegaard in der dänischen Zeitung «Politiken».
Gegenüber dem Escape Collective haben indes mehrere Insider anonym ihre Besorgnis darüber geäussert, dass das Gerät auch zu einem anderen Zweck verwendet werden könnte. Durch regelmässiges Inhalieren von Kohlenmonoxid könnte die maximale Sauerstoffaufnahme, der VO2Max, gesteigert werden. Beweise, dass dies gemacht wird, gibt es nicht. Sollte es der Fall sein, würden die Doping-Regeln zumindest geritzt, denn man könnte es als eine Art künstlicher Manipulation des Blutes interpretieren, was untersagt ist.
Die Suppe wird womöglich nicht so heiss gegessen, wie sie gekocht wird. Doping-Experte Raphaël Faiss von der Universität Lausanne sagte gegenüber der «Libération», es gäbe zwar einen leistungssteigernden Effekt, dieser sei aber nur bedingt von Nutzen. Und Tadej Pogacar? Der Träger des Maillot Jaune mochte, am Dienstag darauf angesprochen, nicht gross auf das Thema Kohlenmonoxid eingehen: «Ich habe das gehört und an einen Auto-Auspuff gedacht. Ich weiss nichts darüber und kann es nicht kommentieren. Ich bin vielleicht einfach ungebildet.»
Es gibt noch andere Antworten auf die Frage, wie es möglich ist, mit dem Velo so schnell einen Berg hinaufzufahren. Die Kurzfassung: Die Entwicklung ist in vielen Bereichen fortgeschritten.
So sind die Velos heute besser als zu Zeiten von Lance Armstrong, Jan Ullrich und Marco Pantani (so wie deren Räder besser waren als jene von Ferdy Kübler, Fausto Coppi und Eddy Merckx). Die Velos sind heute wesentlich aerodynamischer, weswegen weniger Kraft benötigt wird, um sie zu bewegen. Kraft, die in der Ebene eingespart und dann am Berg eingesetzt werden kann.
Es wird nichts dem Zufall überlassen: Trikots, Helme, Socken, Handschuhe, Sonnenbrille – die gesamte Ausrüstung wird auf Windschlüpfrigkeit optimiert. Das Team Sky um Chris Froome prägte den Begriff der «Marginal gains»: Viele kleine Verbesserungen sollen in der Summe zu einer grösseren führen. Die Reifen etwa sind heute deutlich breiter als noch vor zehn oder zwanzig Jahren.
Auch die Trainingsmethoden haben sich geändert. Galt einst das Motto «Je länger, je besser», stehen heute vermehrt Intervalltrainings oder längere Ausdauereinheiten im entspannten Bereich unterhalb der anaeroben Schwelle auf dem Programm. Nach den Etappen, kaum im Ziel und noch vor der Siegerehrung, sitzen die Stars schon wieder auf einem Velo, um durch lockeres Ausfahren auf der Rolle die Regeneration zu beschleunigen.
Dazu kommt, dass gerade in jüngster Vergangenheit grosse Fortschritte bei der Ernährung der Rennfahrer gemacht wurden. Kristof de Kegel, Performance Manager von Alpecin-Deceuninck mit dem Weltmeister Mathieu van der Poel, sprach darüber in den Zeitungen von CH Media. Der brach in diesem Frühling den Rekord bei Paris–Roubaix, er gewann den Pavé-Klassiker nach 260 Kilometern mit einem Schnitt von 46,8 km/h.
«Vor einigen Jahren dachten wir noch, ein Mensch kann etwa 60 Gramm Kohlenhydrate in der Stunde aufnehmen. Dann sagt der Magen: ‹Schluss jetzt!›», sagte de Kegel. «Mittlerweile wurde herausgefunden, dass man mit der richtigen Mischung von Kohlenhydraten bis zu 120 Gramm pro Stunde verwerten kann. Manche Fahrer schaffen sogar noch mehr.» Wer mehr Kohlenhydrate aufnehmen kann, ist leistungsfähiger.
Die Zeiten, als Fahrer zum Frühstück möglichst viel Spaghetti in sich stopften, sind ohnehin passé. Heute wird vermehrt Reis empfohlen, da er glutenfrei und gut zu verdauen ist. Die Teams haben Ernährungswissenschaftler an Bord, die auch anhand der gesammelten Daten aus den Velocomputern der Athleten genau ausrechnen, was welcher Fahrer zum Znacht bekommt und wie viel.
Auch während der Etappen ist genau festgehalten, wann was gegessen und getrunken wird. In der Regel sind es Energieriegel und -gels mit viel Kohlehydraten. Das soll verhindern, dass ein Fahrer einen Hungerast erleidet, weil die Speicher plötzlich leer sind und er scheinbar nicht mehr vom Fleck kommt.
Jeder Ansatz mag für sich genommen die schnelleren Zeiten im Vergleich zu früher noch nicht erklären. In der Summe hingegen kann man dies durchaus nachvollziehen: bessere Velos, bessere Ausrüstung, besseres Training, bessere Ernährung – bessere Leistung.
Hinzu kommen äussere Faktoren wie das Wetter. Ob die Sonne brennt, ob es regnet, woher der Wind weht, hat einen grossen Einfluss. Ebenso die Beschaffenheit der Strasse, nicht überall rollt es gleich gut. Und es ist ein Faktor, ob ein Pass am Anfang einer Etappe auf dem Programm steht oder als Schlussanstieg; Radsport hat schliesslich auch viel mit Taktik zu tun. Daher sind Vergleiche über die Epochen eine nette Spielerei, aber Pogacars Gegner heisst nicht Pantani, sondern Vingegaard.
Und wenn die Teams nebst dem Kohlenmonoxid-Rebreather eben doch noch weitere Mittel zur Leistungssteigerung entdeckt haben? Solche, die noch nicht nachweisbar sind? Die Jäger hecheln den Gejagten stets hinterher, das liegt in der Natur der Sache. Und die Jäger haben es dem Anschein nach noch schwieriger als früher. Das sagte zumindest Mario Thevis, der Chef des Labors für Dopingkontrolle in Köln, in der NZZ: «Die Möglichkeiten der Leistungsbeeinflussung durch nicht erlaubte Mittel und Methoden sind umfangreicher geworden.»
Ausgefuchste Trainingsmethoden, ausgeklügelte Ernährung, optimierte Ausrüstung. Und ein Griff in die Apotheke? Die Hand legt niemand ins Feuer, der die Historie des Profisports kennt. Aber bis das Gegenteil belegt ist, gilt die Unschuldsvermutung.
Den Dummen zu spielen, ist eine beliebte Ausrede von Lügnern. Es gibt natürlich die Unschuldsvermutung.