Die Tour de France ist nicht dabei. Auch nicht Paris – Roubaix oder ein anderes der berühmtesten Radrennen der Welt. Doch Lucas Carstensen ist ein Siegfahrer. Der deutsche Sprinter gewinnt seine Rennen anderswo: in Ländern wie Gabun oder Senegal, oder in seiner Wahlheimat Thailand.
Carstensen stammt aus Hamburg, er lebt aber mittlerweile mit seiner thailändischen Freundin in Chiang Mai. Die Gegend rund um die Stadt im bergigen Norden Thailands nennt der 29-Jährige einen «Radsport-Hotspot Asiens». Gerade jetzt im Winter habe es sehr viele Radfahrer, die sich bei Temperaturen zwischen 25 und 30 Grad auf die neue Saison vorbereiten.
Dass es ihn dorthin verschlug, sei die Folge eines längeren Prozesses, resümiert Carstensen im Telefongespräch mit watson. Er war Fahrer des deutschen Teams Bike Aid, das an vielen Rennen ausserhalb Europas teilnimmt. Als 2020 die Corona-Pandemie die Welt im Griff hatte, reiste die Mannschaft nach Fernost, um die Tour of Thailand zu bestreiten. Lucas Carstensen gewann zwei Etappen – und kehrte nicht zurück:
Sechs Monate lang blieb er, weil nirgendwo mehr Rennen ausgetragen wurden. In dieser Zeit lernte er seine Freundin kennen, weshalb er im Jahr darauf erneut für längere Zeit nach Thailand reiste. Carstensen beschloss, sich ein asiatisches Team zu suchen, einerseits wegen der Liebe, andererseits weil sich dies durchaus finanziell lohnt. «Zumindest für thailändische Verhältnisse verdiene ich gut», sagt der 29-Jährige. Und weil er in einem eher günstigen Land lebe, habe dies den Effekt, dass er einen angenehmen Lebensstil führen und gleichzeitig noch ein bisschen Geld auf die Seite legen könne.
Carstensens aktuelle Mannschaft heisst Roojai Online Insurance und hat den Status eines Continental-Tour-Teams, das ist die dritte Liga des Radsports. Erstklassig sind hingegen manche Erfahrungen, die er auf zwei Rädern macht. «Ich fuhr in Indonesien und da herrschte eine super Stimmung, das war völlig krank», gerät er ins Schwärmen. Dort werden auch Fahrer seines Kalibers zu gefeierten Helden:
In Asien könne man sich manchmal auch als «normaler Fahrer» fühlen wie die Besten der Welt an der Tour de France, schildert der Radprofi, der auch die Philippinen als Land mit einem begeisterungsfähigen Publikum am Strassenrand wahrnahm. «Es gibt da eine ziemlich grosse Radsportszene und auch viele, die Rennrad fahren.» In Thailand und Malaysia entstehe ebenfalls eine Radsportkultur. In China hingegen, wo Carstensen oft Rennen bestreitet, sei er sich nie ganz sicher, ob die manchmal extrem vielen Zuschauer alle freiwillig kommen.
Über die Organisation der Rennen äussert er sich lobend. Die Hotels seien in der Regel super, zudem könne man sich häufig mit europäischen Topteams vergleichen. Der grösste Unterschied zu Rennen in Europa sei wohl die Streckenführung:
Seine Saisonsiege errang Carstensen alle in Massensprints. Man müsse auf einem Terrain ein Spezialist sein, wenn man in Asien gewinnen wolle, meint er. «Es ist entweder von Anfang bis am Ende flach, oder es ist flach und geht am Ende noch einen Berg hoch», beschreibt er die zwei vorherrschenden Streckenprofile.
Auch deshalb liegen ihm die Rennen in seiner Wahlheimat. In Afrika, wo er vor seinem Umzug nach Thailand häufig fuhr, war dies anders. Gerade die Tour du Rwanda, das bekannteste Rennen des Kontinents, ist ein stetes Auf und Ab. 2025 findet in Ruandas Hauptstadt Kigali die Strassen-WM statt.
Sind die Rundfahrten in Asien meist gut organisiert, so sind jene in Afrika oft auch ein Abenteuer. Carstensen erinnert sich an kleinere Rennen, wo die Teams in schlechten Hotels untergebracht waren und es öfters vorkam, dass nichts zu essen da war:
Lucas Carstensen versucht, so gut es geht, Eindrücke von der Gegend mitzunehmen, in der er gerade Rennen fährt. «Man kriegt schon recht viel mit, wenn man sich darauf einlässt. Manchmal ist man aber auch einfach nur kaputt, sodass man nichts lieber macht, als sich nach dem Rennen hinzulegen.»
Es ist klar, dass ein junger Rennfahrer eher vom Gelben Trikot der Tour de France träumt als vom Gelben Trikot der Tour of Binzhou. Was verhinderte, dass Carstensen die allerhöchste Stufe erreicht? «Es kamen ein paar Sachen zusammen», holt er aus. Zum einen sei es so gewesen, dass er als Junior schlicht nicht so gut war, und dass es ein viel zu grosses Wagnis gewesen wäre, mit 18 Jahren alles auf eine Karte zu setzen. Nach dem Abitur habe er deshalb studiert, und erst um einiges später habe er einen Leistungssprung gemacht:
Dazu kam die massive Konkurrenz innerhalb des Landes um die wenigen Plätze, welche die grösseren Teams mit deutschen Fahrern besetzten. «Mein 1994er-Jahrgang war in Deutschland aussergewöhnlich stark, der brachte wohl etwa zehn World-Tour-Fahrer heraus», sagt Lucas Carstensen und zählt Namen auf wie Maximilian Schachmann, Nico Denz, Pascal Ackermann, Nils Politt oder Phil Bauhaus. Manchmal hadere er ein wenig damit, dass es ihm nicht ganz nach oben gereicht habe, gibt Carstensen zu:
Nun halt Thailand statt Mailand. Im nächsten Sommer wird der Deutsche 30 Jahre alt und wenn es nach ihm geht, dauert seine Karriere noch ein Weilchen an. «Wenn ich damit kein vernünftiges Geld mehr verdienen kann, dann suche ich mir etwas anderes. Wahrscheinlich könnte ich jetzt schon einen Job haben, bei dem ich mehr verdiene – aber ich mache es halt auch gerne.» Ohne Leidenschaft geht es in diesem Sport, der sich oft über das Leiden definiert, nicht.
Der Traum von der richtig grossen Karriere ist der Realität gewichen. «Das habe ich aufgegeben. Wenn man in einem asiatischen Team fährt, dann macht man das nicht, um in einem europäischen Team Profi zu werden», ist sich Lucas Carstensen bewusst. Stattdessen wünscht er sich, dass ein kleinerer Traum in Erfüllung geht: ein Start an den Cyclassics in Hamburg. Dazu müsste Deutschland eine Nationalmannschaft für das Eintagesrennen aufstellen und ihn nominieren: