Wasser sickerte durch ein Rinnsal, über ihm ratterten die Rotoren der Helikopter, ein Konvoi aus Radfahrern und Autos stürzte sich mit hohem Tempo die Albulapassstrasse hinunter Richtung La Punt. «Und ich sass auf einem Berghang und blickte auf diese wunderschöne Landschaft.»
So beschreibt Magnus Sheffield den Donnerstag, 15. Juni 2023. Es ist der Tag, der sein Leben in ein Davor und ein Danach teilt. Und es ist der Tag, an dem Gino Mäder auf der Königsetappe der Tour de Suisse so schwer stürzte, dass er am Tag darauf verstarb. Er wurde nur 26 Jahre alt.
Es waren Stunden der Bestürzung, der Verzweiflung, der Hoffnung auch. Später der tiefen Trauer, der Anteilnahme und der Solidarität. Sie haben sich tief in das kollektive Gedächtnis gebrannt und sie prägen bis heute die Erinnerung an einen Menschen, der die besten Jahre im Sattel, vor allem aber im Leben noch vor sich hatte. Und über den Mäders Mutter Sandra sagt: «Ich glaube, es war Ginos Schicksal, an diesem Tag zu sterben.»
Wie zufällig, wie beliebig das Leben spielt, zeigt das Schicksal von Magnus Sheffield. Der norwegisch-amerikanische Rennfahrer vom Team Ineos Grenadiers kam wie kurz nach ihm Mäder bei der Ausfahrt der Linkskurve an einer Stelle mit dem romanischen Namen Chaunt da la Cruschetta (Anstieg des Kreuzlabkrautes) von der Strecke ab, bremste auf einem Kiesband am Strassenrand und stürzte die rechts abfallende Böschung hinunter über das Bord und eine Bachverbauung in ein Bachbett.
Sheffield erlitt Prellungen und ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma. Mitte Februar, vor seinem ersten Rennen der neuen Saison, erzählte er, er erinnere sich noch relativ gut an den Tag seines Sturzes, aber nicht an die Minuten, in denen er in der Böschung sass und Mäder gestürzt war. Die Uhr zeigte an jenem Donnerstag 16.24 Uhr an. «Ich wusste, dass ich alleine gestürzt war. Ich war verwirrt, medizinisches Personal um einen Fahrer zu sehen, bei dem ich nur das Trikot des Teams erkennen konnte».
Mäder, das wird eine Untersuchung später ergeben, war wie Sheffield ohne Einwirkung eines anderen Fahrers gestürzt, auch ein Defekt am Fahrrad oder ein Hindernis auf der Strasse wird ausgeschlossen. Von beiden Stürzen gibt es weder Videos noch Fotos und auch keine Zeugen.
Als die Rettungskräfte eintrafen, war Magnus Sheffield ansprechbar und konnte die Unfallstelle zu Fuss verlassen. Erst im Regionalspital Samedan erfuhr er, welcher Fahrer an der gleichen Stelle gestürzt war.
Gino Mäder zog sich bei seinem Sturz ins steinige Bachbett schwere Kopfverletzungen zu und wurde noch am Unfallort reanimiert, bevor er mit einem Helikopter nach Chur verlegt wurde. Am Tag darauf, am Freitag, 16. Juni 2023, um 11.24 Uhr, verstarb er im Kantonsspital im Beisein seiner Mutter Sandra, seines Vaters Andreas und seiner Freundin Meret.
Magnus Sheffield hat bis heute nie öffentlich zum Sturz Auskunft gegeben. Aber sieben Monate danach brach der inzwischen 21-Jährige in einem Beitrag auf der Webseite seines Teams Ineos Grenadiers sein Schweigen. Er habe Zeit gebraucht, um die Geschehnisse zu verarbeiten.
Sheffield lässt durchblicken, dass er sich Gedanken gemacht habe, ob er seine Zukunft im Radsport sieht. Viele hätten sich gefragt, ob er weitermache. Wie ihn der Sturz verändere. Und ob er wieder der gleiche Fahrer werden würde.
Nach der Entlassung aus dem Spital erholte sich Sheffield während drei Monaten in den USA im Kreis der Familie von seinen Verletzungen. Seit der Grundschule habe er nicht mehr so viel Zeit an einem Ort verbracht. «Wenn man so stark auf etwas konzentriert seit, könne man leicht den Kontakt zu allem anderen verlieren, was auf der Welt vor sich gehe.
Sheffield sagt: «Ich habe viele Bilder aus meiner Kindheit angeschaut und mich an die Zeit erinnert, als ich mit dem Radfahren begonnen habe.» Und er beschreibt den Moment, in dem er spürte, wie sehr er sich die Rückkehr in den Renntross wünschte: «Als mein Vater den Fernseher einschaltete, um das Finale einer Etappe der Tour de France zu schauen, war das sehr schwierig für mich, weil ich spürte, dass ich hätte dort sein sollen.»
Drei Monate nach dem Sturz auf dem Albula kehrte Sheffield bei der Tour of Britain zurück, wo er die Nachwuchswertung für sich entschied. «Was passiert ist, hat mich daran erinnert, wie fragil und zerbrechlich das Leben sein kann. Ich fühle mich unglaublich glücklich, am Leben zu sein, gehen zu können und noch viel mehr, dass ich weiter Rennen bestreiten kann.»
Am Dienstag tut das der 21-Jährige erstmals seit seinem Sturz und erstmals seit dem Tod von Gino Mäder im Sommer 2023 wieder in der Schweiz, wenn er bei der Tour de Romandie (23. bis 28. April) antritt. Man habe ihm gesagt, Gino sei ein unglaublicher Mensch gewesen und er sei mit seinen Gedanken oft bei seiner Familie und seinen Freunden, sagt Sheffield.
Sie seien nur bei sehr wenigen Rennen gleichzeitig gestartet. Ihre Wege, ja ihre Lebenslinien – seine und jene Gino Mäders – hätten sich deshalb leider nur wenige Male gekreuzt. Und doch bleiben ihre Schicksale untrennbar miteinander verknüpft, seit das Schicksal in der Abfahrt vom Albula zugeschlagen hat. Und vielleicht noch viel mehr, als allgemein belegt ist. Mäders Mutter Sandra vermutet im Velomagazin «Gruppetto», ihr Sohn sei durch die Bremsspuren des kurz vor ihm verunfallen Sheffield möglicherweise irritiert und für einen Moment abgelenkt gewesen.
Gino Mäder starb nach dem Sturz in jener Linkskurve, in der das Leben von Magnus Sheffield wenige Minuten zuvor eine Wendung genommen hatte. Für Sheffield – und deshalb will er nun auch nicht mehr über jenen verhängnisvollen Tag im Sommer 2023 sprechen – hat mit der Rückkehr ein neues Kapitel begonnen; «in meiner Karriere und in meinem Leben.»
Ob der Blick auf die Bremspur, auf den vor ihm stürzenden Fahrer Sheffield oder der gleiche Grund wie für Sheffield's Sturz (zu schnell, verbremst, ?), alle die auf Pässen Rennvelo oder Töff fahren, kennen es wie schmal der Spielraum ist.
Es ist einfach traurig, dass solche Menschen von uns gehen..