Zusammen mit dem französischen Doppel-Weltmeister Julian Alaphilippe soll Marc Hirschi für das Schweizer Team Tudor Pro Cycling von Besitzer Fabian Cancellara die Tür zur grossen Radsportwelt aufstossen. Anfang Juli startet die Equipe auf Einladung erstmals bei der Tour de France. Derzeit bestreitet sie mit dem Giro d'Italia die zweite grosse Landesrundfahrt.
Nicht dabei sind die beiden Aushängeschilder, die Tudor im Hinblick auf diese Saison unter Vertrag genommen hat. Im Fall von Julian Alaphilippe, im letzten Jahr noch Etappensieger für das Team Soudal-Quickstep, war das vorgesehen. Sein Fokus liegt auf dem Heimrennen in Frankreich, wo von ihm Siege erwartet werden. Sechs Etappen gewann der 34-Jährige dort schon, die letzte allerdings vor vier Jahren. Dazu trug er während 18 Tagen das Maillot jaune. 2018 gewann er die Bergpreiswertung.
Marc Hirschi hingegen hätte seine erste grosse Landesrundfahrt seit 2022 (!) bestreiten sollen. 2020 sorgte er bei seiner ersten Tour de France mit seiner Fahrweise für Begeisterung und konnte nach zahlreichen Versuchen und nach einer rund 30 Kilometer langen Flucht eine Etappe gewinnen.
Sein Wechsel zum Team UAE Emirates um Tadej Pogacar machte ihn zwar zum Millionär, verwehrte ihm aber die Chance auf grosse Siege.
Bei Tudor hat Hirschi beides: Einen Lohn von mindestens 1,5 Millionen im Jahr und ein Team, das ihn in der Captainrolle sieht. Nur: Wenige Tage vor dem Start des Giro d'Italia wurde der 26-jährige Berner aus dem Aufgebot gestrichen. Ersetzt wurde er durch den Jurassier Yannis Voisard, der als einziger Schweizer dabei ist und als Helfer in den Bergen vorgesehen ist.
Geschuldet ist das zwei Umständen. Erstens befindet sich der Australier Michael Storer in blendender Verfassung, wie er als Sieger bei der Tour of the Alps unter Beweis stellte. Beim Giro gilt der Zehnte des Vorjahrs als Geheimtipp. Sogar ein Podestplatz scheint für den 28-Jährigen möglich.
Zweitens hat Marc Hirschi die Erwartungen bisher nicht erfüllt. Zwar gewann er Anfang Jahr gleich sein erstes, kleineres Rennen, doch sowohl beim Amstel Gold Race (40.), bei Flèche Wallonne (49.) und bei Lüttich-Bastogne-Lüttich (45.) konnte er nicht mithalten. Auch Alaphilippe blieb bisher vieles schuldig, was sein üppiges Salär rechtfertigen würde. In 25 Renntagen ist ein achter Platz sein bestes Resultat im Tudor-Dress.
Bei Tudor macht man nicht nur mit der Ausbootung aus dem Aufgebot für den Giro d'Italia kein Geheimnis daraus, dass man mit Hirschis Leistungen nicht zufrieden ist. «Diese zeigten, dass er derzeit nicht in der Verfassung ist, um in der ersten Woche um die Maglia Rosa mitzufahren», erklärte das Team. Hirschi sagte: «Ich bin sehr enttäuscht. Es ist frustrierend für mich.»
Erklärbar ist das Formtief unter anderem mit einer Erkrankung im Vorfeld der Ardennen-Klassiker. Aber nicht nur. Tudor hält sich diesbezüglich bedeckt und schreibt knapp: «Es ist eine Ansammlung kleiner Details.»
Statt nach Italien reist Hirschi nun nach Spanien in die Sierra Nevada, wo er sich in einem Höhentrainingslager auf die Tour de Suisse (ab 15. Juni) vorbereiten werde, wie das Team Tudor mitteilt. Denkbar ist ein Start beim GP Gippingen zwei Tage davor. Hirschi hatte das Rennen 2022 gewonnen. Die Frage, was das Team von ihm erwartet, damit er am 5. Juli in Lille bei der Tour de France an den Start gehen darf, lässt Tudor unbeantwortet.
Weil er neben Alaphilippe wohl Spitzenverdiener im Cancellara-Team ist, steht Hirschi unter speziellem Druck. Denn das langfristige Ziel ist klar: Aufstieg in die World Tour, die 18 Teams umfasst. Derzeit liegt Tudor im UCI-Ranking, das die Jahre 2023 und 2025 einrechnet, auf dem 23. Rang. Eine World-Tour-Lizenz für die nächste Periode (2026 bis 2028) ist in weiter Ferne.
Das Ziel ist deshalb ein anderes: Sich in der zweitklassigen Pro Tour unter den zwei Besten klassieren. Das würde die Teilnahme bei Giro d'Italia, Tour de France, Vuelta und Klassikern wir Paris-Roubaix garantieren.
Doch auch in der Pro Tour ist die Konkurrenz inzwischen gross. Derzeit liegt das Team Tudor nur im vierten Rang, hinter Uno-X, Israel – Premier Tech, das allerdings wohl über das Dreijahresranking des Radwelterbands UCI aufsteigen wird, und auch hinter dem zweiten Schweizer Team Q36.5.
Zwar sagt Cancellara, man wolle «nicht drei Schritte aufs Mal» machen und es gehe darum, sich «kontinuierlich zu entwickeln», «hungrig» zu bleiben und sich mit dem Team Tudor «Respekt im Peloton» zu erarbeiten. Doch für das ambitionierte und entsprechend kostspielige Projekt wäre das Verpassen dieses Zieles in diesem Jahr ein herber Rückschlag.
Entsprechend gross ist der Druck, der auf Marc Hirschis Schultern lastet. «Ich bin viel wichtiger. Tudor ist zwingend auf viele UCI-Punkte von mir angewiesen», sagte der Berner Anfang Jahr im Interview zu CH Media. Bis zur Tour de France bleiben ihm rund sieben Wochen, um in Bestform zu kommen. Spätestens dann soll der Schweizer Spitzenverdiener das tun, wofür ihn das Team Tudor Pro Cycling geholt hat: um Siege mitfahren.
Teamchef Raphael Meyer und Besitzer Cancellara haben bewiesen, dass Leistung die oberste Maxime ist. Findet er bis im Sommer nicht zu seiner Form, droht Marc Hirschi auch bei der Tour de France die Ausbootung. (aargauerzeitung.ch)