Als Raphael Meyer darauf angesprochen wird, was ihm die Einladung für sein Schweizer Team Tudor zur Tour de France 2025 bedeutet, bricht ihm die Stimme. Ein Kindheitstraum gehe in Erfüllung, sagt er. Aber nicht nur.
Draussen war es heiss, drinnen flimmerte der Fernseher. «Als mein Vater im Sommer 2017 im Sterben lag, haben wir gemeinsam die Tour de France verfolgt. Deshalb denke ich in diesem Moment auch an ihn», sagt Meyer. Kurz danach, im August, erlag sein Vater 64-jährig einem Krebsleiden.
Ende März 2025 kommt per SMS eine frohe Botschaft: Das Team Tudor Pro Cycling steht am 5. Juli in der Region Lille bei der Tour de France am Start. Erstmals seit knapp zehn Jahren und IAM Cycling bestreitet damit eine Schweizer Equipe das mit Abstand bedeutendste Radrennen der Welt.
«Wir haben darauf gehofft, dass dieser Traum in Erfüllung geht», sagt Raphael Meyer, der Teamchef von Tudor. «Jetzt schwarz auf weiss die Bestätigung zu haben, ist eine schöne Überraschung und auch eine Genugtuung für die Arbeit, die wir in das Projekt gesteckt haben.» Darauf werde er sicher «mit einer Flasche französischem Rotwein» anstossen.
Tudor hat einen bemerkenswerten Aufstieg hinter sich. 2018 als Swiss Racing Academy gegründet, stieg Ex-Profi Fabian Cancellara im Frühling 2022 bei der Talentschmiede ein und konnte den Uhrenhersteller Tudor als Sponsor und Namensgeber gewinnen. Auf die Saison 2023 erhielt Tudor den Status als UCI ProTeam (2. Leistungsstufe). Im vergangenen Jahr nahm die Equipe beim Giro d'Italia erstmals an einer Grand Tour teil.
Mit den Verpflichtungen des Franzosen Julian Alaphilippe, einem Doppel-Weltmeister, und dem Schweizer Marc Hirschi, aktuell die Nummer 4 der Weltrangliste, hat das Team Tudor auf diese Saison hin weitere Argumente gesammelt. Und die Organisatoren der drei grossen Landesrundfahrten – Giro d'Italia, Tour de France und Vuelta – in ein Dilemma gebracht.
Bisher setzte sich das Peloton aus den 18 Teams der World Tour sowie den zwei besten der zweiten Leistungsstufe zusammen, der Tudor angehört. Dazu kamen zwei Wildcard-Mannschaften, die von den Veranstaltern ausgewählt werden. Wie der Weltverband UCI am Montag mitteilte, erhält 2025 ein zusätzlicher Rennstall eine Wildcard für die jeweilige Grand Tour. Das Peloton wächst damit auf 23 Mannschaften und 184 statt 176 Fahrer.
«Träume erfordern Schmerzen, Tränen und Herzblut. Doch wenn sie in Erfüllung gehen, belohnen sie dich mit Glück und Zufriedenheit», sagt Fabian Cancellara. Während 29 Tagen trug der 44-jährige Berner das Maillot Jaune. Damit ist er der Fahrer, der das begehrte Stück Textil am häufigsten trug, ohne die Gesamtwertung der Tour de France zu gewinnen.
Cancellara ist ein Intimus des Radsports, sein Partner Raphael Meyer ein Quereinsteiger. Nach einem Jahrzehnt bei einer Bank wechselte er zum Sportvermarkter InfrontRingier, der damals die Tour de Suisse in seinem Portfolio führte, ehe er sich dem Management von Fabian Cancellara widmete. «Wenn ich sehe, was wir in dieser Zeit aufgebaut haben, erfüllt mich das mit grossem Stolz», sagt Meyer.
Aber auch mit Demut vor der immensen Herausforderung, welche die Tour de France als grösstes jährlich stattfindendes Sportereignis der Welt darstellt. Weniger als 100 Tage bleiben dem Team Tudor, um sich auf den Start vorzubereiten. Gefordert ist eine logistische Meisterleistung. Während der Tour de France stehen während drei Wochen bis zu 40 Personen im Einsatz: 8 Fahrer, Physiotherapeuten, Osteopathinnen, Masseure, bis zu 5 Mechaniker, ein Koch, dazu Betreuer für die Gäste und Sponsoren.
Das ist wenig Zeit für viel Vorbereitung, wie Meyer sagt. Zumal Tudor am Montagabend auch noch eine erneute Einladung zum Giro d'Italia erhalten hat, der in etwas mehr als einem Monat, am 9. Mai, in Albanien beginnt. Die Erfahrung aus dem vergangenen Jahr sei dabei Gold wert, sagt Meyer. «Weil wir als Team bereits wissen, dass es funktionieren wird.»
45 Fahrer stehen bei Tudor unter Vertrag, 30 bei den Profis, 15 starten für das Nachwuchsteam. Bleibt die Frage, welche 8 Fahrer am 5. Juli am Start der Tour de France stehen werden. «Wir haben eine Liste von zwölf Fahrern», sagt Meyer. «Bis 72 Stunden vor Start können wir acht Namen nennen, dazu vier Reservisten. Entscheidend ist, wer wie gut in Form ist.» Das lasse sich jetzt, mitten in der Klassikersaison, nicht beantworten.
«Mit Alaphilippe und Hirschi haben wir Fahrer, die für Spektakel sorgen», sagt Meyer. Der Schweizer hat 2020 schon eine Etappe der Tour de France gewonnen, Alaphilippe schon insgesamt sechs. Dazu trug der Franzose während 18 Tagen das Maillot Jaune und gewann 2018 das Bergtrikot.
Ambitionen auf den Gesamtsieg habe Team Tudor zwar keine. Doch mit einem Etappensieg zu Beginn der Rundfahrt könnte ein weiterer Traum in Erfüllung gehen: der vom gelben Leadertrikot. Meyer würde dann wohl einen Moment innehalten – und in Gedanken mit seinem Vater anstossen. (aargauerzeitung.ch)