An der Spitze wird es immer enger. Nachdem Jonas Vingegaard bereits auf der 16. Etappe der Vuelta über eine Minute gutgemacht hatte, griff der Däne auch am Mittwoch – dieses Mal gemeinsam mit Primoz Roglic – auf der 17. Etappe im Schlussanstieg an. Damit führt Sepp Kuss nur noch acht Sekunden vor seinem Teamkollegen Vingegaard, der Dritte im Bunde von Team Jumbo-Visma folgt mit einer weiteren Minute Rückstand.
«Das war unser Ziel», verrät Vingegaard nach der Zieleinfahrt, «die ersten drei Plätze im Gesamtklassement zu verteidigen». Die nächste Aussage des 26-Jährigen überrascht jedoch, angesichts seiner in Augen vieler egoistischen Fahrweise in den letzten beiden Etappen: «Ehrlich gesagt, bin ich glücklich, dass Sepp noch im roten Trikot ist. Ich hoffe, dass er die Vuelta gewinnt.»
Ähnlich klingt es auch aus dem Mund von Primoz Roglic, der die 17. der 21 Etappen an der Spanien-Rundfahrt direkt vor Vingegaard für sich entschied: «Sepp war bei allen unseren Siegen dabei, er ist der Erste, dem ich einen Sieg wünsche.» Nur, weshalb merkt man das auf der Strecke nicht? «Ich muss auch an meine Verantwortung und an mich denken», erklärt der Slowene und stellt klar: «Ich bin hier, um mein Bestes zu geben. Am Ende wird der Beste gewinnen.»
"To be honest, I actually hope that he [Sepp Kuss] will keep the jersey. I would love to see Sepp winning this Vuelta a Espana."
— NBC Sports Cycling (@NBCSCycling) September 13, 2023
- Jonas Vingegaard after stage 17 #LaVuelta23 pic.twitter.com/mPhdb2bZoH
Von den Experten der Show «The Breakaway» wurden sowohl Roglic als auch Vingegaard für ihr Verhalten und ihre Aussagen scharf kritisiert. «Roglic widerspricht sich selbst», sagt der frühere, irische Radprofi Sean Kelly. Der 33-Jährige wolle, dass Kuss gewinne, und greife dann trotzdem an, obwohl er merkt, dass Kuss an Boden verliert. «Das ist unfair», meint Kelly, «Kuss war so loyal zu den beiden Fahrern und sie geben ihm nichts zurück.»
Adam Blythe, ebenfalls früherer Radprofi, schlägt in dieselbe Kerbe: «Es ist illoyal und respektlos, nach all dem, was Sepp für sie getan hat.» Kuss stellte sich in der Vergangenheit stets in den Dienst der Stars des niederländischen Teams und verhalf sowohl Roglic als auch Vingegaard zu mehreren Grand-Tour-Siegen. «Jetzt haben sie die Möglichkeit, das Leben ihres Kollegen zu verändern, aber nicht den Respekt, ihn gemeinsam zu unterstützen», stellt Blythe fest.
Der Leader Kuss, der am gestrigen Mittwoch auf den letzten beiden Kilometern abreissen lassen musste und mit 19 Sekunden Rückstand ins Ziel kam, zeigte sich trotz des schmelzenden Vorsprungs glücklich: «Ich habe nie erwartet, in dieser Position zu sein und das ist das Schöne daran.» Im Ziel gratulierte er Sieger Roglic und Vingegaard, bei Mikel Landa entschuldigte er sich, weil er ihn im Sprint um Platz 3 kurz vor Schluss noch überholte.
"A cuddle for Roglic and a slap on the head for Vingegaard."
— Eurosport (@eurosport) September 13, 2023
Sepp Kuss greets his teammates over the finish line 👀#LaVuelta23 pic.twitter.com/xfvhjyzHac
«Ich musste am Ende für die Bonussekunden fahren, obwohl ich Landa nicht angreifen wollte. Er hätte das Podium heute mehr verdient gehabt», so Kuss. Dass er um Bonussekunden fahren muss, ist ein ungewohntes Gefühl für Kuss. Eigentlich sei er in der Erwartung nach Spanien gereist, seinen Teamkollegen zu helfen – wie er es immer tat. «Und dann bin ich zu diesem schönen Trikot gekommen und habe ein neues Level von Selbstbewusstsein und Renninstinkt entdeckt.»
Doch bei seiner Zielankunft dachte Kuss, dass er das Trikot bereits verloren hätte. «Aber ich war nicht wirklich traurig, weil ich mein Bestes am Anstieg gegeben habe.» Dass Vingegaard und Roglic ihm die Gesamtführung strittig machen wollen – obwohl ein ungeschriebenes Radsport-Gesetz dies eigentlich verbieten würde – empfindet Kuss ohnehin nicht als Problem.
Vielmehr gab er seinen Teamkollegen und Konkurrenten um den Gesamtsieg das «Go», als er merkte, dass er das Tempo am Angliru, einem der härtesten Pässe Europas, nicht mehr mitgehen könne. Dies teilte Jumbo-Visma während des Rennens mit. Das erfolgreiche Team gab seinen Spitzenfahrern bereits vor der Schlusswoche die «Freiheit, um den Sieg zu fahren».
Für einige Experten ist das nicht verständlich. «Eigentlich erwartet man vom Team eine Anordnung, dass Vingegaard und Roglic auf Kuss warten, falls er zurückfällt», sagt Adam Blythe. Der 29-jährige Leader würde das nie von sich aus verlangen, da er ein «sehr netter Typ» ist, doch müssten seine Kollegen «ihm den Respekt zeigen, den er verdient und ihm freiwillig helfen», findet Blythe.
Dies sieht auch «Eurosport»-Experte Jens Voigt so. Zwar ist für ihn klar: «Das ist Sport, kein Märchen mit Happy End und natürlich soll der Beste gewinnen.» Doch müsse man auch bedenken, dass Roglic in diesem Jahr den Giro d'Italia und Vingegaard die Tour de France gewonnen haben, «weil sie in Kuss den loyalsten Helfer hatten. Und jetzt wäre der perfekte Moment, etwas Loyalität zurückzugeben.»
Für die Spannung auf den letzten vier Etappen der am Sonntag endenden Vuelta a España ist die Kontroverse um Vingegaard und Co. in jedem Fall zuträglich. Am heutigen Donnerstag steht die letzte Bergankunft an, bevor noch drei Flachetappen auf dem Programm stehen. Am Ende wird wohl sicher ein Fahrer von Team Jumbo-Visma triumphieren – nur welcher es sein wird, ist nicht vorherzusagen.