Ihr Zusammenhalt ist stärker als der Krieg. Selbst wenn die Frontlinie quer durch die Familie verläuft. Die furchtbaren Geschehnisse in der Ukraine stellen die Biathlon-Schwestern Aita und Selina Gasparin vor eine ganz besondere Herausforderung.
«Eine, die wir gemeinsam meistern werden, denn die Familie ist das Wichtigste für uns. Und die Verbundenheit durch den Sport ist stärker als jeder Konflikt. Wir alle wollen das gleiche: Frieden!», sagt die 28-jährige Aita mit einer Überzeugung, die von Herzen kommt.
Ihre zehn Jahre ältere Schwester Selina, die am vergangenen Wochenende den Rücktritt vom Spitzensport erklärt hat, ist mit dem russischen Langläufer Ilja Chernousov verheiratet. Seit gut einem Jahr besitzt der Bronzemedaillengewinner der Olympischen Spiele 2014 in Sotschi den Schweizer Pass.
Aitas Partner ist der ukrainische Biathlet Sergej Semenov. Der 33-Jährige war der erste WM-Medaillengewinner seines Landes und ist seit knapp zwei Jahren mit der jüngsten der drei Gasparin-Schwestern verlobt.
In einem Monat wollte das Paar im Giardino Verde in Uitikon heiraten. «Alles war bereits bis ins Detail geplant», sagt Aita. Auch rund 15 Gäste aus der Ukraine standen auf der Gästeliste, darunter Sergejs Eltern, seine Geschwister und der Trauzeuge. Der Krieg in der Heimat verunmöglicht derzeit ein Freudenfest und die Hochzeit ist vorerst auf Ende September verschoben. «Aber wir haben Zeit und werden die Heirat erst durchführen, wenn alle in Sicherheit sind und wieder eine Stimmung vorherrscht, um etwas zu feiern», sagt Aita Gasparin.
Während die jüngere Schwester offen über ihre Gefühlswelt spricht, die bereits durch die Nicht-Selektion für die Olympischen Spiele auf eine harte Probe gestellt wurde, haben sich Selina und Ilja entschieden, sich über politische Angelegenheiten nicht zu äussern. Der russische Langläufer und der ukrainische Biathlet wohnen mit ihren Partnerinnen nur wenige Kilometer entfernt in unmittelbarer Nähe zum nationalen Trainingszentrum in der Lenzerheide.
Sie verstehen sich gut, haben in der Vergangenheit auch schon zusammen trainiert und Weihnachten gemeinsam in der familiären Geborgenheit der Gasparins gefeiert. Und jetzt sind ihre beiden Nationen auf dem Schlachtfeld auf einmal erbitterte Feinde – mit klar verteilten Rollen von Gut und Böse im Westen. Ein Umstand, der die Gasparins nicht auseinanderdividieren wird.
Vor wenigen Wochen noch war Sergej Semenov, von seiner Lebenspartnerin zärtlich «Sem» genannt, selbst der wichtigste Tröster für die tief enttäuschte Aita. Nach einem schwierigen Saisonstart des Schweizer Frauenteams, welcher auch auf das Fehlen eines Disziplinenchefs während einiger Monate der Olympiavorbereitung sowie einige Fehlentscheidungen von Seiten Swiss-Ski zurückzuführen war, wurden sie und ihre Schwester Elisa nicht für die Winterspiele in China aufgeboten. Aita Gasparin verpasste zum ersten Mal seit 2013 einen Grossanlass. Noch vor zwei Jahren träumten die drei Schwestern von der gemeinsamen Staffelmedaille bei Olympia 2022.
«Ich habe mich im Vorfeld zu fest unter Druck gesetzt, die Limite zu schaffen», sagt Aita. Beim Weltcup in Ruhpolding hatte sie das Olympiaticket vor Augen, doch drei Fehler beim letzten Schiessen zerstörten den Traum.
Bevor sie mit einem starken Saisonfinale eine beeindruckende Antwort ablieferte, durchlief Aita Gasparin ein tiefes Tal. «Es war ein bitterer Moment. Mein neuer Mentaltrainer Sandro Stähli und mein Freund haben mir sehr geholfen, aus diesem Loch rauszukommen. Weil das Schweizer Team in Peking war, stand Sergej Semenov beim Training in Lenzerheide am Schiessstand für Aita und Elisa hinter dem Fernglas.
«Sergej an meiner Seite zu haben, war sehr wichtig für mich», sagt Aita. Zwei Wochen später wechselten die Rollen. Nachdem Russland in die Ukraine einmarschierte, musste plötzlich sie der starke Part sein und Trost spenden. «Meine Probleme fühlten sie im Vergleich zu dem, was Sem durchmachen muss, auf einen Schlag unendlich klein und unwichtig an», sagt die 28-Jährige.
Sie habe in den vergangenen Wochen eine ganz neue Seite an ihrem künftigen Ehemann erlebt. Seine Gefühle seien taub, er schlafe wenig und schlecht. «Man kann die Tragik der Situation aus seinem Gesicht lesen. Ich habe Sem noch nie so viel weinen gesehen», sagt Aita. Doch trotz der erdrückenden Präsenz des Krieges «gibt es auch die schönen gemeinsamen Momente».
Sie habe viel Zeit aufgewendet für gemeinsame Gespräche, aber auch, um zusammen an Informationen zu kommen. Über seine Familie und seine Freunde in der belagerten Heimatstadt Tschernihiw nördlich von Kiew, nahe der weissrussischen Grenze. «Vieles, was wir zu sehen und zu hören bekommen, ist fast zu brutal für unsere Gedankenwelt», sagt Aita Gasparin, «die Stadt ist zu einem grossen Teil zerstört, die Mutter hatte tagelang kein Wasser, keinen Strom und keine Heizung. Sie erleben Dinge, die wir uns nicht vorstellen können.»
Ganz schlimm ist auch die Ungewissheit. «Man weiss nie, was der nächste Tag bringt.» Eine Flucht erscheint noch riskanter als das Verharren in der umkämpften Stadt. Denn der Weg in den sicheren Westen ist nur über von Russland kontrolliertes Gebiet möglich. Zudem ist die Strecke bis zur polnischen Grenze nicht in einem Tag zu schaffen. Wo also die Nacht verbringen?
Seit die Verteidiger der Stadt das Quartier, wo Sergejs Familie wohnt, mit einer Barrikade aus Baumstämmen gegen russische Panzer schützt, ist auch der Weg mit dem Auto nach draussen versperrt. Zuwarten, hoffen und dafür beten, dass der Wahnsinn irgendwann der Vernunft weicht, bleiben für Sem und Aita als einzige Option. «Man kommt sich so machtlos vor», sagt die Bündnerin.
Als Athletensprecherin war Aita Gasparin auch in die Diskussionen des Biathlon-Verbandes involviert, ob man die Russen und Weissrussen ausschliessen soll oder sie unter neutraler Flagge weiter starten lassen will. Es seien schwierige und teils kontroverse Diskussionen gewesen, sagt die 28-Jährige.
Schliesslich setzte sich die Variante des kompletten Ausschlusses durch. «Beide Wege wären starke Zeichen gewesen», glaubt Aita. «Ein Verbleib hätte signalisiert, dass unser Sport Nationen verbindet und nicht spaltet. Es sind alles unsere Freunde, die am Start eines Rennens stehen.»
Freunde wollen auch der Ukrainer Sergej und der Russe Ilja bleiben. Schliesslich waren sie es auch vor dem Krieg. Ihre starken Frauen werden sie unterstützen. Selbst wenn die Unsicherheit auch Aita stark belastet. Ihr Verlobter ist von Beruf Sportsoldat. Die Möglichkeit, dass er für den Krieg einberufen wird, war in den letzten Wochen stets präsent. «Und es kann auch jetzt noch passieren», sagt Aita Gasparin mit gedämpfter Stimme.