Eigentlich hätte Ana-Maria Crnogorcevic lieber noch etwas gewartet bis zum Wiedersehen mit ihren Freundinnen. «Ich freue mich zwar, sie alle zu sehen. Aber ich hätte lieber später im Turnier gegen Spanien gespielt», sagt sie. Doch am Samstag ab 7 Uhr Schweizer Zeit ist es so weit: Das Nationalteam trifft im WM-Achtelfinal in Auckland auf Spanien. Und damit kommt es für Crnogorcevic zum Aufeinandertreffen mit ihren Teamkolleginnen in Barcelona.
Seit dreieinhalb Jahren lebt die Rekordnationalspielerin in Barcelona, spielt dort beim besten Klubteam der Welt. In Spanien fühlt sich Crnogorcevic pudelwohl, sie sei schon ein bisschen spanisch geworden, sagt sie. «Ich mochte es schon davor, eine Siesta zu halten. Und auch an die spanischen Essenszeiten habe ich mich gewöhnt», sagt sie. «Als ich ins WM-Camp einrückte, hatte ich nach dem frühen Abendessen schon um 22 Uhr wieder Hunger»», erzählt sie lachend. «Nur das mit der spanischen Unpünktlichkeit habe ich nicht angenommen.» Wenn sie sich in Barcelona in der Freizeit mit Teamkolleginnen verabredet, kann es gut sein, dass sie eine halbe Stunde warten muss.
Beim FC Barcelona ist Crnogorcevic auf ein Team getroffen, das spielerisch auf einem extrem hohen Niveau ist. In den letzten drei Jahren standen die Katalaninnen immer im Champions-League-Final und gewannen zweimal. Sie stehen dafür, wofür vor ein bisschen mehr als zehn Jahren das Männerteam stand: Tiki-Taka, viel Ballbesitz, hohe Passquote, einschnürende Spielweise, schöne Tore. Bei den Männern war die Folge, dass das spanische Nationalteam unbesiegbar wurde. Die Generation um Andrés Iniesta und Xavi wurde 2008 und 2012 Europameister, 2010 Weltmeister.
Ähnlich hoch sind die Erwartungen an das spanische Frauenteam. Vor dem WM-Achtelfinal der Schweizerinnen gegen Spanien sagt Crnogorcevic dazu: «Der Druck für die Spanierinnen ist hoch.» Besonders hoch lastet dieser auf der zweimaligen Weltfussballerin Alexia Putellas. Sie holte im letzten Jahr diesen Titel – obwohl sie die halbe Saison verpasst hatte. Doch an der WM glänzt sie noch nicht. «Sie ist noch nicht wieder bei 100 Prozent», bemerkt Klubkollegin Crnogorcevic.
Dennoch soll Putellas gemeinsam mit der anderen Über-Spielerin Aitana Bonmatí für die kreativen Momente in der Offensive sorgen. Nur: die Spanierinnen haben an einem grossen Turnier noch nie ein K. o.-Spiel gewonnen. Zuletzt scheiterten sie an der WM 2019 an den USA und an der EM 2022 an England. Beide Gegnerinnen holten später den Titel.
Insgesamt sind acht Barcelona-Spielerinnen für Spanien an der WM mit dabei. Für Crnogorcevic bedeutet dies, dass sie ihre Freundschaften für einige Zeit vergessen muss. «Natürlich haben wir auch an der WM jetzt immer mal wieder Kontakt. Wir sind vor und nach dem Spiel Freundinnen, – währenddessen aber nicht», sagt die Berner Oberländerin. Besonders eng ist ihre Freundschaft zu Verteidigerin Irene Paredes. «Wir trainieren meistens zusammen, machen das Aufwärmen oder Kraftübungen zu zweit. Und manchmal bin ich auch Babysitter für ihren Sohn Mateo.»
Für Crnogorcevic ist Spanien Favorit im WM-Achtelfinal. Dennoch hievt sie Spanien nicht auf das Niveau Barcelonas: «Wir haben in Barcelona ein paar ausländische Akteurinnen, die den Unterschied ausmachen. Diese fehlen Spanien.»
Dabei denkt Crnogorcevic nicht an sich selber, auch wenn sie ein Puzzleteil des Erfolges ist. Anders als im Nationalteam, wo sie als Mittelstürmerin vorne weggeht, agiert Crnogorcevic im Klub als Aussenverteidigerin oder Flügelspielerin. In der abgelaufenen Saison kam sie auf 50 Einsätze und erzielte 11 Tore. «Ich bin zufrieden mit meiner Saison, bin viel zum Spielen gekommen.» Im Nationalteam hat sie eine andere Rolle: «Hier im Nationalteam bin ich eine Führungsspielerin.»
Diese Bezeichnung ist fast eine Untertreibung dessen, was Crnogorcevic im Schweizer Fussball ist. Sie ist die Rekordspielerin des Landes. Im dritten WM-Spiel gegen Neuseeland hat sie die Marke von 150 Länderspiele geknackt. Auch ihre 71 Tore sind Rekord – ob bei den Männern oder bei den Frauen.
Doch an dieser WM ist der Stürmerin noch kein Tor geglückt, allgemein haperte es in der Offensive. Deshalb zeigte sich Crnogorcevic nach dem 0:0 gegen Norwegen sauer in der Interview-Zone. Doch diese schlechte Laune ist wie weggewischt, als sich spanische Journalisten mit ihr austauschen wollen. Darf sie Spanisch sprechen, blüht sie auf. Das Sprachgenie spricht Spanisch, kann auch ein wenig Katalanisch. Es sind ihre Sprachen sechs und sieben. Die Fussballerin gilt in jeder Sprache als äusserst redegewandt. «Ana ist ein aufgestellter Mensch und sehr gesprächig. Wenn man mit ihr in einem Café geht, dann würde sie bis am nächsten Tag weiterreden, würde man sie nicht stoppen», sagt Nati-Kollegin Viola Calligaris.
Für Ana-Maria Crnogorcevic ist das WM-Achtelfinal gegen Spanien ein weiterer Höhepunkt einer beeindruckenden Karriere. Dabei durfte sie einst als Mädchen gar nicht mit dem Fussballspielen beginnen, ihr Vater verbot es ihr. Crnogorcevic tat es heimlich – und legte einen steilen Weg hin. Nun spielt sie im besten Klub der Welt und will an der WM Freundinnen nach Hause schicken.