In Liverpool traut man seinen Augen nicht: Nur vier Tage nach der Tragödie in Hillsborough schiebt die Zeitung «The Sun» die Schuld an der Katastrophe den Fans in die Schuhe.
Die Zeitung druckt Aussagen eines anonymen Polizisten ab. Dessen Anschuldigungen sind heftig: «Betrunkene Fans haben auf die toten Körper und die Polizeibeamten uriniert», heisst es zum Beispiel. Oder: «Als ein Polizeibeamter eine Frau wiederbeleben wollte, haben sie die Liverpool-Fans sexuell missbraucht.»
Die Titelseite der Sun ist eine einzige Anklage an die Liverpool-Fans:
Doch was ist geschehen an jenem 15. April 1989? Und weshalb druckte «The Sun» Aussagen unter dem Titel «The Truth» ab, welche der Wahrheit überhaupt nicht entsprachen?
An jenem Samstagnachmittag, der als wohl schwärzester Tag des englischen Fussballs in die Geschichte eingehen wird, freut sich ganz Liverpool auf ein Cup-Fest. Im FA-Cup-Halbfinal treffen die «Reds» unter Erfolgscoach Kenny Dalglish auf Nottingham Forrest. Das Spiel findet auf neutralem Boden statt: Im Hillsborough-Stadion in Sheffield.
Weit ist die Anreise nicht, weder für den Liverpool-Anhang noch für die Supporter aus Nottingham. Keine 100 Kilometer. Dementsprechend gross ist der Andrang. Viele der Fans kommen erst kurz vor dem Anpfiff beim Stadion an, so dass sich eine halbe Stunde vor Spielbeginn eine grosse Menschenmenge vor dem Eingang der Liverpool-Kurve bildet.
Der Ansturm wird vor dem Anpfiff um 15 Uhr immer grösser. Lediglich sieben Drehkreuze sollen dafür sorgen, dass die Fans gestaffelt ins Stadion gelangen können. Viel zu wenig, wie sich herausstellt. Geschätzte 5000 Personen befinden sich noch vor dem Eingang, als die beiden Teams den Rasen betreten. Ein Polizeibeamter funkt und fragt, ob man das Spiel nicht etwas später beginnen könne. Der Antrag wird abgewiesen.
Der Druck auf die wenigen Eingänge wird immer grösser und so entscheiden die Sicherheitskräfte, ein weiteres Gate zu öffnen, um ausserhalb des Stadions die Situation zu entschärfen. Das Gate wäre eigentlich nur als Ausgang vorgesehen gewesen, doch nun drücken und strömen unzählige weitere Fans in das sowieso schon volle Stadion.
Um 15 Uhr wird das Spiel angepfiffen. 21 Personen sind zu diesem Zeitpunkt bereits tot.
Auf dem Spielfeld wird tatsächlich Fussball gespielt, doch im Fan-Sektor von Liverpool herrscht bereits eine Massenpanik. Die Zuschauer versuchen über das Gitter zu klettern, doch die Polizei hindert sie zunächst daran. Erst als sich um 15.06 Uhr die ersten Fans auf den Rasen retten können, wird das Spiel unterbrochen.
Auf dem Rasen ereignen sich nun schreckliche Szenen. Fans versuchen Kollegen zu reanimieren, Verwundete brechen zusammen. In der Zwischenzeit erreichen 44 Ambulanzen das Stadion, doch die Polizei lässt sie nicht rein. «Wir liessen die Fans die erste Hilfe machen, sodass sie ihren Frust nicht an uns auslassen würden», erklärt einer der verantwortlichen Polizisten, John Nesbit, diese eigentümliche Strategie später.
94 Menschen sterben an diesem Tag, zwei weitere in den kommenden Jahren an den Folgen. England ist geschockt. Wie konnte so etwas nur passieren? Für eine solche Katastrophe muss ein Sündenbock gefunden werden. «The Truth», die Wahrheit, muss ans Licht.
Doch an der Wahrheit wird mächtig geschraubt. Gegen 200 Zeugenaussagen werden gefälscht, die verantwortlichen Polizisten lügen und bestechen die befragten Fussballfans.
Die damalige Premier-Ministerin Margaret Thatcher reist zwar am Tag nach der Katastrophe an den Unglücksort und bekundet ihr Beileid. In Tat und Wahrheit ist sie aber ebenso wenig an einer sorgfältigen Aufarbeitung der Geschehnisse interessiert wie die verantwortliche Polizei.
In Liverpool behauptet man bis heute, Thatcher habe für die Arbeiterstadt sowieso nicht viel übrig gehabt und Fussballfans als primitive Proletarier angesehen. Deshalb trauert man der «Eisernen Lady» an der Mersey auch nicht wirklich nach, als sie am 8. April 2013 stirbt.
Die Reaktionen auf die Titelseite der Sun fallen heftig aus. Nach der Hillsborough-Katastrophe fällt die Auflage in Liverpool von 400'000 auf nur noch 12'000. Noch heute weigern sich viele Zeitschriften-Händler in Liverpool, «The Sun» zu vertreiben.
Es dauert geschlagene 15 Jahre, bis sich die Zeitung entschuldigt. Es sei «der schrecklichste Fehler in der Geschichte der Zeitung» gewesen. Weitere acht Jahre später veröffentlicht «The Sun» ein Titelbild mit der Überschrift: «The Real Truth».
41 Personen hätten gerettet werden können, wenn die Polizei richtig reagiert hätte. Somit dürfte auch geklärt sein, weshalb die Beamten daran interessiert waren, die Wahrheit zu vertuschen.
Die Titelseite wird am Tag nach der Bekanntgabe der Untersuchungsergebnisse des im Jahr 2009 eingesetzten Komitees zur Aufarbeitung der Hillsborough-Tragödie veröffentlicht. Es handelt sich um den 12. September 2012. Ganze 23 Jahre sind seit dem Unglück vergangen.
Die Angehörigen der Opfer, zu denen auch Liverpool-Ikone Steven Gerrard gehört, erfahren so, wenn auch viel zu spät, wenigstens einen Hauch von Gerechtigkeit. Im darauffolgenden Heimspiel gedenken die Anhänger der «Reds» den 96 Todesopfern mit einer eindrücklichen Choreo und dem wohl emotionalsten «You'll never walk alone», das die Anfield Road je erlebt hat.
Nochmals vier Jahre später gesteht auch die Polizei ihre Schuld ein. Eine polizeiliche Fehleinschätzung und nicht das Fehlverhalten der Zuschauer habe die Katastrophe im Hillsborough-Stadion von Sheffield ausgelöst, ist das Fazit der Untersuchung, die von einem Gericht im britischen Warrington präsentiert wird. Das Gericht teilt mit, die 96 Fussballfans seien ohne eigenes Verschulden getötet worden. Zwei Jahre lang hat die Jury dafür Hunderte von Zeugenaussagen, Bilder und Videos der Katastrophe ausgewertet.