An der Wall Street ist häufig von TINA die Rede. Damit ist keine weibliche Person gemeint, sondern die Abkürzung von «There Is No Alternative». Gemeint ist der Notstand der Anleger in Zeiten, in denen die Zentralbanken die Zinsen auf null oder noch tiefer gesenkt haben. Wer Geld verdienen will, hat praktisch keine andere Wahl, als Aktien zu kaufen.
TINA wurde als Begründung dafür genannt, dass es nach dem Ausbruch der Corona-Epidemie in China an den Finanzmärkten weiter bergauf ging – obwohl China heute für die Weltwirtschaft eine weit grössere Bedeutung hat als beim Ausbruch des Sars-Virus 2003. Die Epidemie werde auf das Reich der Mitte beschränkt bleiben und bald ein Impfstoff gefunden sein, redete man sich ein.
Am Montag platzte diese Illusion: Der Dow-Jones-Index büsste mehr als 1000 Punkte ein, wodurch sämtliche Gewinne dieses Jahres ausradiert wurden. Auch die europäischen Börsen gaben nach, ebenso jene in Asien. Der Ölpreis geriet unter Druck, dafür stieg der Goldpreis. Der Franken wertete sich ebenfalls auf. Alles klare Anzeichen für die Verunsicherung der Investoren.
Am Wochenende platzte die Illusion, dass eine Ausbreitung des Coronavirus abgewendet werden kann. In Südkorea nahm die Zahl der gemeldeten Fälle stark zu, ebenso in Iran. In Italien sind ausgerechnet die Lombardei und Venetien betroffen, die wirtschaftlich stärksten Regionen des Landes. Der italienische Leitindex sauste mit minus 5,4 Prozent besonders stark nach unten.
«Der Optimismus der Investoren ist mit der Realität kollidiert», heisst es in einem Kommentar der «Financial Times». Nun hoffe man auf ein erneutes Eingreifen der Zentralbanken, doch es sei fraglich, wie sich damit ein wirtschaftlicher Einbruch verhindern lasse, «der auf Todesfälle, gegroundete Flüge, geschlossene Fabriken und Geisterstädte zurückzuführen ist».
«Wenn sich Reisebeschränkungen und Unterbrechungen der Lieferkette fortsetzen, könnten die Auswirkungen auf das globale Wachstum weiter verbreitet sein und länger anhalten», sagte Jonas Glotermann vom Londoner Forschungsunternehmen Capital Economics. Was könnte dies konkret bedeuten, etwa für die beiden weltgrössten Wirtschaftsmächte USA und China?
Die Signale aus dem Ursprungsland des Coronavirus sind verwirrend. Das betrifft besonders die Millionenstadt Wuhan, wo das Virus im Dezember diagnostiziert wurde und sich durch die Vertuschung der Behörden zu einer Epidemie ausweiten konnte. Am Montag hiess es erst, die strikte Quarantäne werde gelockert. Dann wurde diese Mitteilung für «ungültig» erklärt.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärte, die Epidemie habe in China bereits vor drei Wochen ihren Höhepunkt überschritten. Mit seinen drastischen Massnahmen habe China möglicherweise Hunderttausende Fälle der Krankheit Covid-19 verhindert, sagte der WHO-Experte Bruce Aylward. Aber nach wie vor werden neue Infektionen und Todesfälle registriert.
About 60% of Chinese firms face operational difficulties due to the novel #coronavirus. 6% of them face bankruptcy and 20% see a temporary suspension. Just 5% see no obvious impact from #COVID19: survey pic.twitter.com/QwKrvQHWu1
— Global Times (@globaltimesnews) February 25, 2020
Die chinesische Regierung rechnet mit deutlichen Auswirkungen auf die Wirtschaft. Zwar haben viele Fabriken die Produktion wieder aufgenommen. Laut der parteinahen Zeitung «Global Times» sind jedoch 95 Prozent der chinesischen Firmen vom Virus betroffen. Rund 60 Prozent hätten mit betrieblichen Problemen zu kämpfen, und sechs Prozent stünden vor dem Bankrott.
Präsident Donald Trump bemühte sich am Montag, Optimismus zu verbreiten. Das Coronavirus sei in den USA «weitgehend unter Kontrolle», der Aktienmarkt sehe aus seiner Warte «sehr gut aus», vermeldete er von seinem Staatsbesuch in Indien via Twitter. Das erstaunt wenig: In einem Wahljahr kann Trump keine schlechten Nachrichten von der Wirtschaftsfront brauchen.
Sein Wirtschaftsberater Peter Navarro betonte in einem Interview, man arbeite «in Trump-Zeit» an einem Impfstoff gegen das Virus. Das Weisse Haus beantragte dafür am Montag beim Kongress Sonderausgaben von 1,4 Milliarden Dollar. Kritiker glauben allerdings, dass die Regierung weder für einen Einbruch der Wirtschaft noch für den Ausbruch einer Epidemie gerüstet ist.
Trump habe wichtige Positionen in vielen Bereichen der Regierung «ausgehöhlt» und sei nun «dringend auf professionelle Hilfe von Leuten angewiesen, die er drei Jahre lang verschmäht hat», sagte der Historiker Russell Riley von der University of Virginia der «Washington Post». Selbst Trump-Anhänger sorgen sich um die Folgen einer längeren Talfahrt an den Finanzmärkten.
Die europäischen Märkte tendierten am Dienstag nach einer kurzen Erholung wieder ins Minus. Mehr und mehr werde den Investoren bewusst, dass das Coronavirus in der Weltwirtschaft Spuren hinterlassen werde, sagten Händler der Agentur AWP. «Die Folgen der Pandemie werden sich bald auch in den Unternehmenszahlen niederschlagen», meinte ein Händler.
An seinen Aktien festhalten will hingegen der 89-jährige Investment-Guru Warren Buffett. Der Ausbruch des Coronavirus sei «erschreckend», sagte Buffett am Montag im Interview mit dem Fernsehsender CNBC. «Es sollte aber nicht das beeinflussen, was man am Aktienmarkt macht.» Man könne dort immer noch mehr Geld verdienen als mit Anleihen. TINA gilt auch für ihn.
Mit Material von sda
Wenn ich an das lausige Krisenmanagement bei im Grunde bekannten Naturkatastrophen wie in Puerto Rico usw. denke, dann kann einem beim Gedanken Angst und Bange werden, dass sich das Corona-Virus fast mit Sicherheit früher oder später auch in amerikanischen Grossstädten verbreiten wird.