Die Zinsen könnten noch lange hoch bleiben. Diese Möglichkeit wollten die globalen Finanzmärkte erst nicht wahrhaben. Bis sie es doch glaubten. In Deutschland und in den USA stiegen die langfristigen Zinsen so hoch wie seit über einem Jahrzehnt nicht. Bleibt es dabei, kann alles Mögliche schiefgehen.
Wo das globale Finanzsystem am verwundbarsten ist, hat der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem Stabilitätsbericht untersucht. Eine Bankenkrise sei zwar abgewendet worden. Es blieb bei einigen der grössten Pleiten in der Geschichte der USA und dem Ende der Credit Suisse. «Doch gibt es inzwischen anderswo Anzeichen für Probleme.»
So lasten die Zinskosten schon schwer auf den KMU, kleinen und mittelgrossen Unternehmen. Ein steigender Anteil von ihnen habe dafür kaum mehr genug Cash. 2024 könnten diese Nöte noch grösser werden, da Schulden von insgesamt 5,5 Billionen Dollar fällig werden.
Die Haushalte haben ihre Reserven allmählich aufgezehrt. Langfristige Hypotheken laufen aus und müssen zu höheren Zinsen erneuert werden. So lasten die Zinskosten schwerer auf den Haushalten. Es kommt häufiger zu Zahlungsausfällen bei Kreditkarten oder Autoleasing.
All das hat schon zu einem Rückgang der Eigenheimpreise geführt. Bis im ersten Quartal 2023 habe es global einen durchschnittlichen Rückgang von real 5 Prozent gegeben, verglichen mit dem Vorjahresquartal. Die Unterschiede sind indessen gross.
In den USA sind die Preise nominal leicht gestiegen, erst nach Abzug der Inflation ergibt sich ein realer Rückgang von 2 Prozent. In Deutschland fielen die Preise nominal um über 5 Prozent, nach Abzug der Inflation real gar um über 10 Prozent. In Kanada gab es einen nominalen Rückgang von weit über 10 Prozent und real gar einen von über 20 Prozent.
Preisrückgänge im zweistelligen Prozentbereich finden sich vor allem in Ländern, in denen variable Hypotheken weit verbreitet sind. Dort haben die höheren Leitzinsen schneller auf die Hypothekarzinsen durchgeschlagen und die Nachfrage darum schneller nachgelassen. Und die Preise gingen zuvor in der Coronazeit besonders stark in die Höhe.
In einigen Ländern zeige sich, was der IWF eine «ungewöhnliche Dynamik» nennt. Zwar sei die Nachfrage durch die höheren Zinsen deutlich geschwächt. Doch zugleich gebe es zu wenige Eigenheimen auf dem Markt, weshalb die Preise noch immer über dem Niveau von vor Corona liegen. Zu diesen Ländern zählt wohl auch die Schweiz.
Verwundbarkeit und ein «signifikantes Risiko für den Finanzsektor» sieht der IWF auch bei kommerziellen Immobilien, also Büros und Verkaufsflächen. Hier drohen grosse Verluste, wie der Ausfall von Zinszahlungen oder Abschreibungen auf den Wert von Immobilien.
Das hätte «schwerwiegende Folgen für die Stabilität der Finanzmärkte». Denn auf diese kommerziellen Immobilien wurden gewaltige Schulden aufgetürmt. Gemessen an der gesamten Wertschöpfung, dem Bruttoinlandprodukt, belaufen sich diese Schulden in Europa auf 12 Prozent und in den USA auf 18 Prozent.
Der Finanzmarkt hat längst erkannt, dass da Gefahren lauern – es fliesst weniger Geld in diese Immobilien; manche ziehen sich ganz zurück. Die Banken verlangen höhere Zinsen, verlängern Kredite nicht oder vergeben keine neuen Kredite. Private-Equity-Firmen investieren kaum mehr in kommerzielle Immobilien.
Bei den Banken ist es derzeit wieder ruhig. Das wurde von den Finanzbehörden als Erfolg verbucht; als Indiz dafür, dass die Reformen nach der Finanzkrise etwas bewirkt haben. Doch der IWF warnt nun, ein tieferer Blick in die Bankenzahlen offenbare eine beträchtliche Zahl von schwach aufgestellten Banken.
Im Stresstest zeige sich das globale Bankensystem weitestgehend widerstandsfähig. Doch bleiben die Zinsen lange hoch und kommt noch eine Rezession dazu, würden viele Banken viel von ihrem Eigenkapital verlieren.
Werden noch schlimmere Szenarien unterstellt, seien rasch deutlich mehr Banken betroffen, darunter auch systemrelevante. Deren Schieflage würde ausreichen, das gesamte Finanzsystem aus dem Gleichgewicht zu bringen. Der Staat müsste eingreifen, damit keine Negativspirale in Gang kommt.
Dabei gehe es vor allem um Wertpapiere, welche deutlich weniger Wert hätten, wenn sie heute verkauft werden müssten und nicht bis zum Ende ihrer Laufzeit gehalten werden. Weitere Verluste entstehen, weil mehr Schuldner ihre Zinslast nicht mehr tragen können.
Für Aktien gibt es laut IWF das Risiko einer «drastischen Neubewertung», wenn die Zinsen länger hoch bleiben sollten oder es zu einer Rezession komme. Denn aktuell seien die Preise «überzogen».
Das gelte besonders für den amerikanischen Technologie-Sektor. Die Unternehmen würden zu einem Aktienkurs gehandelt, welcher dem 30-Fachen ihrer Gewinne entspreche. Im historischen Mittel sei es nur das 22-Fache.
Immerhin sind die Bewertungen weit entfernt von früheren Übertreibungen, wie 1999 vor dem Platzen der Tech-Blase. Auch sonst seien Aktien höher bewertet als im historischen Durchschnitt, wie sich am Börsenindex S&P 500 zeige.
Die Kurse seien vor allem getrieben von Optimismus und hohem Risikoappetit. Schlechte Nachrichten hingegen werden ausgeblendet. Die meisten Investoren hätten die zunehmende Evidenz einfach ignoriert, dass Kreditnehmer inzwischen Mühe haben, ihre Schulden zu bedienen.
Wenn sich dem Globalen Finanz-Stabilitätsbericht des IWFs so etwas wie ein Fazit entnehmen lässt, dann vielleicht dies: Die höheren Zinsen beginnen mit Verzögerung zu wirken. Unternehmen und Haushalte haben darum vermehrt Mühe, ihre Schulden zu bedienen. «Die Risiken für die Finanzstabilität bleiben erhöht.» (aargauerzeitung.ch)