Olaf Scholz hat seinen Finanzminister Christian Linder entlassen, weil dieser stur an der Schuldenbremse festhalten wollte. Diese schreibt vor, dass der Staatshaushalt grundsätzlich ausgeglichen sein muss und nur in Notsituationen davon abgewichen werden darf. Für Lindner, den Anführer der wirtschaftsfreundlichen FDP, war dieses fiskalpolitische Instrument eine heilige Kuh, die nicht belästigt, geschweige denn geschlachtet werden durfte.
Die Schuldenbremse passt perfekt in den Ordoliberalismus, der ökonomischen Theorie, die in Deutschland nach wie vor die Volkswirtschaftslehre dominiert. Gemäss dieser Lehre sind Staatsschulden erste Schritte auf dem Weg in die Hyperinflations-Hölle. Auch bei der Bevölkerung ist sie beliebt, denn im vergangenen Jahrhundert sind die Menschen gleich zweimal wegen einer solchen Hyperinflation verarmt.
Die deutschen Politiker, selbst die Sozialdemokraten, wagten es deshalb nicht, gegen das Joch der Schuldenbremse aufzubegehren. Angela Merkel hat sie 2009 mit dem Hinweis auf die sparsame schwäbische Hausfrau eingeführt und in der Verfassung verankert. Der inzwischen verstorbene Finanzminister Wolfgang Schäuble beharrte ebenfalls auf einer «schwarzen Null» im Staatshaushalt, komme da, was wolle.
In der Eurokrise hat sich die Schuldenbremse-Politik der Deutschen bewährt. Dank eines schwachen Euros lief die Exportindustrie – vor allem die Autoindustrie – auf vollen Touren. Mit China hatte sich zudem ein neuer und riesiger Markt aufgetan. Deutschland war eine Zeit lang gar stolzer Exportweltmeister.
Als grösste Wirtschaftsmacht von Euroland sahen sich deutsche Politiker, allen voran Schäuble, auch in der Rolle eines Zuchtmeisters der Länder, die sich nicht an die im Maastricht-Vertrag vorgeschriebenen Limiten für die Staatsverschuldung hielten (3 Prozent des Bruttoinlandprodukts im laufenden Jahr, 60 Prozent des BIP insgesamt).
Vor allem die Länder rund um das Mittelmeer bekamen die deutsche Knute nach der Eurokrise zu spüren. Sie wurden nicht nur mit dem wenig schmeichelhaften Übernamen PIGS bedacht, sie mussten die deutsche Austeritätspolitik übernehmen und hatten wegen des Euros keine Option, die Härten mit einer Abwertung der Währung abzumildern.
In der Covid-Krise hoben selbst die Deutschen die Schuldenbremse kurzfristig auf. Weil weniger Geld als geplant für die Bekämpfung der Pandemie gebraucht wurde, blieben gar 60 Milliarden Euro in der Kasse übrig. Die Ampel-Regierung wollte dieses Geld für Investitionen in die Dekarbonisierung der Wirtschaft verwenden. Da schritt das Verfassungsgericht ein und schob diesem Ansinnen einen Riegel.
Was die Staatsfinanzen betrifft, sind die Deutschen daher wieder Musterschüler geworden. Im laufenden Jahr wird das Defizit voraussichtlich 1,75 Prozent des BIP betragen, die Gesamtverschuldung ist wieder auf 64 Prozent des BIP gesunken. Das wirtschaftliche Umfeld hat sich jedoch völlig verändert, die heilige Kuh Schuldenbremse ist zu einem riesigen Klotz am Bein der deutschen Wirtschaft geworden.
Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat in einem Interview mit watson ein vernichtendes Urteil über die deutsche Wirtschaftspolitik gefällt: «Deutschland betreibt die schlechtestmögliche Wirtschaftspolitik, besonders nach Covid. Deutschland hat eine schwache Nachfrage, keine Investitionen und verliert technologisch den Anschluss.»
Tatsächlich ist die deutsche Wirtschaft in den vergangenen fünf Jahren kaum gewachsen. Auch 2025 ist man auf der anderen Seite des Rheins froh, wenn man eine Rezession verhindern kann, denn das Herz der deutschen Wirtschaft, die Autoindustrie, ist angeschlagen. Der wichtige chinesische Markt ist eingebrochen, weil die einheimischen Elektroautos deutlich billiger sind. Der sich wohl verschärfende Handelskrieg zwischen den USA und China macht die Lage ebenfalls nicht einfacher.
«Donald Trump is bad news for German business», titelt der «Economist» in seiner aktuellen Ausgabe. Der Bald-wieder-Präsident hasst Handelsdefizite, und das Leistungsbilanzdefizit der Amerikaner mit den Deutschen ist gewaltig. Im vergangenen Jahr betrug es 83 Milliarden Dollar. Deshalb werden sich Mercedes, BMW und VW auf höhere Strafzölle gefasst machen müssen, und das in einer Zeit, in der vor allem VW bereits laut über Werkschliessungen nachdenkt.
Auch was den Krieg in der Ukraine betrifft, werden die Deutschen unter Trump zu leiden haben. Ob und wie dieser Krieg beendet wird, wird sich zeigen müssen. Klar ist auf jeden Fall, dass Trump die Finanzlast weitgehend auf Europa und damit auf Deutschland abschieben wird. Putins Angriffskrieg hat den Deutschen somit nicht nur höhere Energiepreise, sondern auch höhere Militärausgaben beschert.
Investieren muss Deutschland auch in die Infrastruktur. Einstürzende Brücken in Dresden und der erbärmliche Zustand der Deutschen Bahn lassen grüssen. Will man den technologischen Abstand zu den USA und China nicht noch grösser werden lassen, sind auch auf diesem Gebiet grosse Investitionen nötig.
All dies ist mit der Politik der schwäbischen Hausfrau nicht mehr zu stemmen. «Wir brauchen gewaltige Investitionen, und wir brauchen sie rasch», sagte der Wirtschaftsprofessor Jens Südekum von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf gegenüber der «Financial Times». «Mit der Schuldenbremse ist dies nicht möglich.» Sie müsse daher dringend reformiert werden, so Südekum weiter. «Ansonsten wird Deutschland unregierbar.»
Diese Einsicht dämmert auch Friedrich Merz, der mit grösster Wahrscheinlichkeit schon bald der nächste deutsche Bundeskanzler sein wird. Verschiedentlich hat er daher angedeutet – zuletzt an einem Wirtschaftsgipfel der «Süddeutschen Zeitung» –, dass er bereit sei, die Schuldenbremse zumindest zu reformieren. Allerdings, so betont Merz, dürfen die Schulden bloss für Investitionen in die Zukunft, nicht aber für Sozialausgaben verwendet werden.
Nicht nur Merz ist bereit, an der Schuldenbremse zu rütteln. Verschiedene Landesfürsten der CDU wollen dies mittlerweile ebenfalls. Sie leiden noch mehr darunter als der Bund. Kai Wegner, der CDU-Bürgermeister von Berlin, geht gar so weit, dass er mittlerweile erklärt, Deutschland sei «wegen der Austeritätspolitik ruiniert worden».
Tatsächlich muss man sich in Berlin langsam veräppelt vorkommen. Die Deutschen halten eisern an ihrer Austeritätspolitik fest, während sich in den USA das Staatsdefizit aktuell auf sieben Prozent des BIP beläuft. Unter Trump werden die Staatsschulden gemäss der Einschätzung verschiedener Ökonomen noch weiter steigen. Auch Frankreich wird die Maastricht-Kriterien einmal mehr nicht einhalten, von Italien gar nicht zu sprechen.
Friedrich Merz hat seine Zeit in der politischen Wüste bei Blackrock verbracht, er ist mit der angelsächsischen Ökonomie vertraut. Diese kennt den Fetisch Schuldenbremse nicht. Will Merz seine Landsleute von diesem Fetisch entwöhnen, dann hat er allerdings noch ein hartes Stück Arbeit vor sich. Er muss nicht nur zuerst die Wahlen gewinnen – er muss dann das Verfassungsgericht in Karlsruhe von der Legalität seines Handelns überzeugen.