Russland ist im Jahr 2023 das am meisten sanktionierte Land der Welt. Trotzdem konnte Wladimir Putin eine Woche vor dem Jahrestag des Einfalls in die Ukraine verkünden: «Die russische Wirtschaft und das Regierungssystem haben sich als viel stärker erwiesen, als der Westen glaubte.»
Und sogar westliche Beobachter mussten eingestehen: Ganz Unrecht hat Putin nicht – oder? Keine Frage, der Angriffskrieg hat der russischen Wirtschaft massiv geschadet. Allerdings fiel der Einbruch nicht so stark aus, wie man es ursprünglich angenommen hatte. Als die Sanktionen gegen Russland in Kraft traten, gingen Analysten davon aus, dass die russische Wirtschaft wohl um ganze 10 bis 15 Prozent schrumpfen würde.
Dazu kam es bei Weitem nicht: Nach einer vorläufigen Schätzung der Regierung reduzierte sich das russische Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr um lediglich 2,1 Prozent. Die Gründe dafür sind vielfältig, laufen am Ende aber auf zwei Erkenntnisse hinaus. Erstens: Russlands Wirtschaft hat auf eine Kriegswirtschaft umgestellt. Und zweitens: Die Zahlen zeichnen ein besseres Bild der russischen Ökonomie, als es in Wirklichkeit der Fall ist.
Der russische Angriffskrieg hatte zunächst einen starken Effekt auf die Finanzmärkte: Die Rendite auf russische zehnjährige Staatsanleihen schoss auf den historischen Stand von fast 20 Prozent. Je höher die Rendite auf einer Staatsanleihe, desto höher ist das Risiko, in sie zu investieren – respektive desto höher ist das Risiko eines Staatsbankrotts. Zum Vergleich: Indien hat derzeit eine Rendite auf zehnjährige Staatsanleihen von 7,4 Prozent, China von rund drei und Deutschland von 2,5 Prozent.
Drei Wochen nach dem Einfall in die Ukraine fiel der Rubel auf ein historisches Tief. Kurz darauf aber die gut ersichtliche Wende: Die russische Währung gewann kontinuierlich an Wert gegenüber dem Dollar, aber auch gegenüber anderen Währungen. Der Rubel-/Dollar-Wechselkurs stieg und fiel innerhalb von drei Wochen jeweils um 40 Prozent. Im Sommer 2022 befand sich der Wechselkurs dann auf dem höchsten Stand in über sieben Jahren.
Die rasche Erholung der Währung war das Resultat aggressiver Kapitalkontrollen des Finanzministeriums sowie rigoroser Zinserhöhungen durch die Nationalbank. Dazu hat Russland grosse Summen an Fremdwährungen – zuletzt vor allem chinesische Yuan – verkauft.
Reserven wie diese hat sich Russland in weiser Voraussicht vor dem Krieg kontinuierlich aufgebaut. Und was die Leitzinsen betrifft, so hat die russische Zentralbank – wie schon 2014 – diese drastisch erhöht. Für eine kurze Zeit betrugen sie sogar 20 Prozent. So konnte ein starkes Ausbrechen der Inflation verhindert werden. Seither wurde der Leitzins wieder kontinuierlich gesenkt; seit dem letzten Zinsschritt im Februar liegt er bei 7,5 Prozent.
Dass es Russland im letzten Jahr wirtschaftlich nicht so schlecht erging wie vorausgesagt, hat in erster Linie mit den hohen Preisen von Öl und Erdgas zu tun. Die westlichen Sanktionen hatten 2022 den paradoxen Effekt, dass Russland trotz mengenmässig weniger Exporte insbesondere nach Europa unter dem Strich mehr einnahm: Gemäss dem jüngsten Bericht des deutschen Instituts für Wirtschaft (IW), der sich auf die offiziellen Zahlen Russlands stützt, stiegen die Einnahmen im Land aus den Öl- und Gasexporten im vergangenen Jahr um rund 29 Prozent.
Dafür verantwortlich waren die hohen Preise, besonders in der ersten Hälfte des Jahres. Im ersten Monat des Krieges stiegen die Ölpreise weltweit um 50 Prozent und erreichten im März einen Höchststand von knapp 130 US-Dollar pro Barrel, während die Grosshandelspreise für Erdgas gar um über 100 Prozent stiegen.
Zwar konnte die EU ihre Gasimporte aus Russland bis Ende 2022 um etwa 75 Prozent senken. Die Rohölexporte in die EU hingegen nahmen nicht im gleichen Masse ab: Noch im Oktober importierte die EU rund 1,5 Millionen Barrel Rohöl pro Tag, das sind gemäss den Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) etwa 1 Million Barrel pro Tag weniger als vor dem Krieg. Ausserdem konnte Russland Fässer, die nach Europa gegangen wären, in Länder wie China und Indien exportieren.
Ebenfalls paradox erschien es, dass Russland zunächst einen riesigen Überschuss in der Handelsbilanz aufweisen konnte. Das stabilisierte den Rubel in der Folge zusätzlich. Kann ein Land nämlich mehr exportieren als es importiert, stärkt das in der Regel die eigene Währung. Ein Grund für den Überschuss ist, dass es zuerst nur Sanktionen gegen russische Importe, nicht aber gegen Exporte gab. Weil die Preise für Erdöl und Erdgas in dieser Zeit förmlich explodierten, liess dies am Ende einen Handelsbilanzüberschuss zu.
Russland erfuhr 2022 also vor allem Einnahmen, die im Wirtschaftsjargon als Windfall-Profit bezeichnet werden: kurzfristige, überdurchschnittlich hohe Einnahmen, die ungeplant und durch veränderte äussere Umstände eintreten.
Auch wenn Russland die Preissteigerungen einigermassen in den Griff kriegen konnte, so lag die Inflation 2022 offiziell dennoch bei zwölf Prozent. Finanzexperten sind bei diesen Zahlen allerdings skeptisch. Teurere und qualitativ hochwertigere Waren seien bei der Berechnung durch Billigprodukte ersetzt worden, sagt ein russischer Finanzexperte gegenüber der Schweizer Agentur für Wirtschafts- und Finanznachrichten (AWP). Er sei überzeugt, dass die Inflation in Realität höher lag.
Hinzu kommt, dass sich viele Firmen aus Russland zurückgezogen haben – wenn auch längst nicht so viele wie ursprünglich angenommen. Der Rückzug vieler Anbieter mache sich dennoch bemerkbar, so seien zahlreiche Produkte mit minderwertigen chinesischen Plagiaten überflutet worden, schreibt die AWP. Sinnbildlich dafür steht der Automarkt, der um fast 60 Prozent eingebrochen ist: Wer ein neues Auto braucht, habe nur mehr die Wahl zwischen dem ur-russischen Lada und 13 chinesischen Fahrzeugmarken. Unternehmen wie Volkswagen, Renault, Ford und Nissan haben im vergangenen Jahr die Produktion eingestellt und begonnen, ihre lokalen Vermögenswerte zu verkaufen.
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Natalja Subarewitsch fasst gegenüber der Nachrichtenagentur zusammen: Russinnen und Russen bliebe eine «schlechtere Auswahl zu höheren Preisen». Unter dieser Krise leide die urbane gebildete Mittelschicht am meisten, sagt sie. Die einkommensschwächsten Gruppen seien immerhin durch Rentenanhebungen und Sozialhilfen für geringverdienende Familien etwas entlastet worden – die Mittelklasse müsse aber mit der Inflation und den dadurch fallenden Realeinkommen selbst klarkommen.
Das zeigt sich am Ende auch in den offiziellen Statistiken: Laut dem russischen Einzelhandelsverband haben die Russen 2022 fünf Prozent weniger Lebensmittel gekauft als noch im Jahr zuvor. Das bestätige auch eine Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM, wo 35 Prozent der Befragten angaben, sich beim Lebensmittelkauf einschränken zu müssen.
Was die Arbeitslosigkeit betrifft, so befindet sich diese laut offiziellen Angaben derzeit bei 3,7 Prozent – eine historisch tiefe Zahl. Doch wie so viele andere Zahlen zur russischen Wirtschaft dürfte diese über einiges hinwegtäuschen. Viele Menschen sind nach Ausbruch des Krieges aus dem Land geflohen, an der Front ist die Zahl der Toten mittlerweile sechsstellig.
Vladimir Milov, ein russischer Politiker und Ökonom, der sich inzwischen dem Team von Oppositionspolitiker Alexei Nawalny anschloss, schreibt, in Tat und Wahrheit seien etwa rund zehn Prozent der Menschen in Russland arbeitslos: Am Ende des dritten Quartals seien fast fünf Millionen russische Arbeiterinnen und Arbeiter von verschiedenen Formen verdeckter Arbeitslosigkeit betroffen gewesen. «Insbesondere befanden sich 70 Prozent von ihnen in unbezahltem Urlaub. Der Unterschied zwischen unbezahltem Urlaub und Arbeitslosigkeit ist ausschliesslich begrifflicher Natur», so Milov.
In ausschliesslich allen Bereichen des russischen Haushalts haben die Staatsausgaben 2022 gegenüber dem Vorjahr massiv zugenommen.
Weil der Staat mit den hohen Ausgaben unter anderem Aufträge in der Industrie finanzierte, konnten diese bislang den Umständen entsprechend gut am Leben gehalten werden. Doch nicht alle profitieren davon, vielen Branchen geht es zunehmend schlecht: zum Beispiel der Autoindustrie, aber auch dem Flugzeugbau und der IT-Branche. Letztere litt aufgrund der Sanktionen zusätzlich unter dem globalen Chip-Mangel.
Die meisten Unternehmen geben an, dass sie sich angesichts der grossen wirtschaftlichen Unsicherheit derzeit kein Wachstum vorstellen können, schreibt CNN unter Berufung auf eine kürzlich erschienene Umfrage eines russischen Think-Tanks. Sogar offizielle Unternehmensbefragungen zeichnen ein düsteres Bild: «Das Geschäftsklima sei negativ im wichtigen Wirtschaftsbereich Bergbau und sehr schlecht im Gross- und Einzelhandel sowie den Dienstleistungen und im Bau. Hier schlagen der Kaufkraftverlust der Russen und die Importbeschränkungen durch», schreibt das IW unter Berufung auf die russische Zentralbank.
Dazu kommt jetzt, dass die Regierung immer lauter darüber nachdenkt, die Unternehmer zur Kasse zu bitten. Offiziell ist bislang von einer «freiwilligen» Abgabe für Grosskonzerne – die Öl- und Gasbranchen sind davon ausgenommen – die Rede. Doch Kremlsprecher Dmitri Peskow warnte bereits kürzlich, dass «das Zusammenspiel zwischen der Führung des Landes und der Wirtschaft keine Einbahnstrasse» sei.
Die oben genannten makroökonomischen Indikatoren zeichnen also ein Bild der russischen Wirtschaft, das so schlimm nicht aussieht. Die russische Elite hat sich beispielsweise mit der Anhäufung von Reserven auf die Sanktionen vorbereitet und, als es so weit war, nach den Regeln der Kunst respektive der Wirtschaft konsequent und zunächst erfolgreich agiert. Es waren aber vor allem die steigenden Staatsausgaben und insbesondere die Windfall-Profite durch den Verkauf von teurem Öl und Gas, die bewirkten, dass das BIP 2022 in Russland nur um 2,1 Prozent schrumpfte. Das ist weniger, als das Land 2020 während der Coronakrise rückwärts machte.
Was das laufende Jahr anbelangt, so gehen die Prognosen auseinander. Das IW geht nach wie vor von einem leichten Plus des russischen BIP von 0,3 Prozent aus. Das wäre mehr, als derzeit für Deutschland prognostiziert wird. Die Weltbank hingegen geht von einem Rückgang um 3,3 Prozent, die OECD gar von 5,6 Prozent aus.
Angesichts der Risse, die sich mittlerweile deutlich bemerkbar machen, käme ein erneuter Rückgang nicht überraschend. Hauptgrund ist der Ölpreis, der zuletzt wieder massiv gesunken ist.
Die Sanktionen gezielt auf russisches Öl und Gas scheinen je länger je mehr zu wirken. Im Dezember einigten sich die Europäische Union, die G7-Staaten und Australien auf einen Höchstpreis von 60 US-Dollar (56 Franken) pro Barrel (159 Liter) für auf dem Seeweg transportiertes Rohöl russischer Herkunft. Damit soll der Preis für russisches Öl so gut wie möglich gedrückt werden, auch für Drittstaaten. In der EU gilt seit Dezember ausserdem ein Importverbot von Rohöl, das auf dem Seeweg transportiert wird. Und Anfang Februar stellte die EU die Einfuhr von sämtlichen Erdölprodukten (wie Benzin, Diesel oder Kerosin) aus Russland ein. Da es kaum mehr Exporte in die EU gibt, muss Russland sein Öl und Gas nun auf dem Weltmarkt für wenig Geld verscherbeln.
Angesichts drohender Einbrüche bei den Einnahmen mit Öl und Gas wird Russland die Ölproduktion bereits im März um 500'000 Barrel pro Tag oder rund 5 Prozent der Fördermenge drosseln. Das liess der stellvertretende Ministerpräsident Alexander Novak Mitte Februar verlauten. Weitere Kürzungen seien nicht ausgeschlossen.
Für erneute Windfall-Profite stehen die Chancen derweil schlecht. Zwar sitzt das grösste Land der Welt noch immer auf Unmengen an Ressourcen, diese müssen aber jeweils zuerst erschlossen werden. Experten erwarten, dass die Produktion von Öl- und Gasfeldern ohne Investitionen, Know-how und Ausrüstung aus dem Westen mit der Zeit zurückgehen wird.
Geringere Einnahmen, die immer höheren Ausgaben gegenüberstehen – das macht sich bereits deutlich bemerkbar. Im Januar wies der Staatshaushalt ein Minus von 1,76 Billionen Rubel aus (rund 23 Milliarden Franken). Das entspricht schon 60 Prozent des für 2023 einkalkulierten Fehlbetrages. Und zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2022 betrug das Defizit 3,3 Billionen Rubel.
Als Folge davon verliert auch der Rubel seit einiger Zeit wieder an Wert, die Inflation nimmt zu und befand sich im Dezember und Januar auf fast zwölf Prozent. Um dagegenzuhalten, hat Russland gemäss eigenen Angaben in den letzten Wochen mehrere Tonnen Gold sowie riesige Summen an Fremdwährungen – zuletzt vor allem chinesische Yuan – verkauft. Ausserdem wird sich Russland, das in dieser Hinsicht bislang äusserst streng mit sich selber war, höher verschulden müssen. Das zeigt auch die vom Finanzministerium publizierte Haushaltsplanung: Der geplante Schuldendienst steigt bis im Jahr 2025 um fast 32 Prozent im Vergleich zu 2022 auf umgerechnet über 21 Milliarden Franken.
Die Sanktionen scheinen also zu wirken, einfach mit grossen Verzögerungen. Was bedeutet das für Putins Staatsführung? Wie das deutsche Institut für Wirtschaft in einer neuen Analyse über den russischen Staatshaushalt schreibt, wird es in Russland zunehmend eine «Guns-and-Butter»-Politik geben – auf Deutsch vergleichbar mit dem «Kanonen-gegen-Butter»-Modell. Es beschreibt den Trade-Off, der sich der Führung eines sich im Krieg befindenden Staates aufdrängt: das Dilemma, die begrenzten Produktionsmöglichkeiten auf Investitionen in die Kriegsmaschinerie einerseits sowie in zivile Güter andererseits aufzuteilen.
«Die aktuelle Planung des russischen Staatshaushaltes zeigt deutlich eine Hinwendung zu einer von Verteidigungs- und Sozialpolitik geleiteten Kriegswirtschaft», so das IW. Die Absicht dabei sei klar: aussenpolitisch auf militärische Stärke setzen und innenpolitisch den sozialen Frieden durch Sozialpolitik wahren und durch Repression Proteste und Opposition im Keim ersticken. Wie gut Putin dieser Spagat gelingt, hängt dabei entscheidend vom Verlauf und der Länge seines Angriffskrieges in der Ukraine ab.
Wirtschaftlich lohnen würde sich dieser für die Raubmörder dann, wenn die gemachte Beute mit vergleichbar geringem Aufwand eingesackt und unter die Raubmörder-Bande verteilt werden könnte.
Und genau so war der ursprüngliche Plan, die Ukraine innerhalb weniger Tage zu überrollen und in Kiew eine auf Russland ausgerichtete Marjonetten-Regierung zu installieren.
Der nach dem Majdan nach Russland geflohene Ex-Präsident Janukovic stand bereits für diese Rolle bereit.
Nun, dieser "Jahrhundert-Coup" Putins ging gründlich daneben...
Russland wird sehr lange unter den Folgen des Krieges zu leiden haben. Egal wie es ausgehen wird, die Russische Bevölkerung wird so oder so der grosse Verlierer sein. Die werden wahrscheinlich noch schlechter dran sein, als die Ukrainer. Denen wird nämlich geholfen werden.