Die Seebahnstrasse in Zürich war lange Teil des Transitverkehrs. Täglich quälten sich tausende Autos und Lastwagen durch dieses Nadelöhr. Entlang dieser Strasse befinden sich auch Wohnblöcke der beiden Genossenschaften ABZ und des eidgenössischen Personals. Sie wurden in einer Zeit errichtet, da Wärmedämmung und Verdichtung noch Fremdwörter waren und befinden sich in einem jämmerlichen Zustand.
Dank der Eröffnung des Üetliberg-Tunnels ist die Seebahn nicht mehr Teil des Transitverkehrs. Die Gegend ist wieder wohnlich geworden, die beiden Genossenschaften haben sich daher entschlossen, die baufälligen Wohnblöcke abzureissen und durch eine zeitgerechte Siedlung zu ersetzen. Kommt dazu, dass damit anstatt der bisherigen 260 Wohnungen 350 Wohnungen entstehen würden, in denen nicht mehr 500, sondern 1000 Menschen wohnen können.
Der Zürcher Gemeinderat hat dieses Projekt jetzt bewilligt, doch bis es so weit war, musste es eine fast 20 Jahre lange Leidensgeschichte durchlaufen. Der Heimatschutz legte sein Veto ein. Er musste klein beigeben und 2016 entliess die Stadt die Siedlungen aus dem Inventar der schützenswerten Bauten.
Auch die Sozialdemokraten stehen hinter dem Projekt, denn «der Nutzen dieses Projekts ist enorm», wie SP-Hochbauvorsteher André Odermatt im «Tages Anzeiger» erklärte.
Angesichts des extremen Mangels an günstigen Wohnungen in Zürich und angesichts des miesen Zustands der Wohnblöcke stellt sich die Frage: Kann man das Vorhaben der beiden Genossenschaften mit rationalen Argumenten ablehnen? Man kann. Mit der Unterstützung von einem kleinen Teil der Grünen will die linke Alternative Liste das Projekt verhindern. Auch der Heimatschutz wittert wieder Morgenluft und überlegt sich eine zweite Klage. Es dürften wieder weitere Jahre verstreichen, bis die Bagger auffahren, wenn überhaupt.
Das Beispiel der Seebahn-Siedlung könnte aus einer aktualisierten Fassung von Gottfried Kellers «Seldwyla» stammen. Leider ist es jedoch das Mahnmal einer verfehlten und selbstzerstörerischen Politik, die sich einbildet, progressiv zu sein.
Exemplarisch zeigt dieses Beispiel auch auf, weshalb sie dazu führt, dass das Vertrauen in den Staat schwindet und Rechtspopulisten sich im Aufwind befinden, denn der Staat wird zunehmend als ineffizient betrachtet.
Das geschilderte Problem beschränkt sich nicht auf Zürich und auch nicht auf die Schweiz. In New York, Boston, San Francisco und Los Angeles ist der Mangel an bezahlbaren Wohnungen mindestens ebenso gross, und die Versuche, diesen Mangel zu beheben, scheitern nicht selten an der gleichen sturen Haltung eines Teils der Progressiven.
Die beiden linksliberalen Journalisten Ezra Klein – er ist derzeit bei der «New York Times» tätig – und Derek Thompson – er arbeitet für den «Atlantic» – haben deshalb ein Buch mit dem Titel «Abundance» (Überfluss) veröffentlicht. Es handelt sich dabei um eine Kampfschrift gegen linke Borniertheit und gegen das, was NIMBY-ismus genannt wird, eine Abkürzung für «Not in my Backyard» (nicht in meinem Hinterhof).
Das Buch stösst auf sehr grosses Echo und wird teilweise bereits als linke Antwort auf «Project 2025» bezeichnet, das Programm der Rechtskonservativen, das Trump nun im Widerspruch zu seinen Beteuerungen im Wahlkampf Schritt für Schritt umsetzt.
In der Ökonomie unterscheidet man zwischen Angebot und Nachfrage. Traditionellerweise kümmern sich die Konservativen um die Angebotsseite (tiefere Steuern, weniger Regulierung), während sich die Linke für die Nachfrage zuständig fühlt (Mindestlöhne, Konjunkturprogramme).
Klein/Thompson stellen diese Rollenverteilung auf den Kopf und plädieren dafür, dass sich die Linke auch um die Angebotsseite kümmert. Anstatt immer mehr Gesetze zu verabschieden, sollten sie für mehr Überfluss in einem positiven Sinne sorgen. «Überfluss ist Linksliberalismus», lautet ihr Fazit. «Mehr noch, es ist ein Linksliberalismus, der baut.»
Der Weg zu diesem Fazit führt über eine ganze Reihe von Beispielen, etwa über das Schicksal des Hochgeschwindigkeitszuges in Kalifornien. 1982 gab Jerry Brown, der damalige Gouverneur, eine Studie in Auftrag, die den Bau eines solchen Bullett-Trains abklären sollte. Alles sprach dafür. Anstatt den Flughafen-Ärger über sich ergehen lassen zu müssen, könnte man doch mit rund 300 Kilometern pro Stunde in einem komfortablen Zug von LA nach San Francisco flitzen oder von Sacramento nach San Diego.
Soweit der Plan, dem die Stimmbürger von Kalifornien 2008 auch zustimmten, ebenso einem Kredit von 33 Milliarden Dollar. Doch dann hagelte es Einsprache um Einsprache. Der NIMBY-ismus erlebte eine Hochblüte, verstärkt durch Umweltschützer, die ebenfalls zu Hochform aufliefen. Das Resultat besteht darin, dass das Projekt bisher hunderte von Milliarden Dollar verschlungen hat und einzig ein paar Bauruinen vorweisen kann. Zu Recht weisen Zyniker darauf hin, dass das kommunistische China im gleichen Zeitraum zehntausende von Bahn-Kilometern für Hochleistungszüge gebaut hat.
Wie ist es zu dieser Bau-Impotenz gekommen? Weshalb haben gerade die reichen Staaten die Fähigkeit verloren, Neues zu schaffen? Klein/Thomson führen das auf eine Art Wohlstandsverwahrlosung zurück und berufen sich auf den Ökonomen Mancur Olson.
In seinem Buch «The Rise and Decline of Nations» stellt Olson fest, dass Wohlstand auch zu mehr Interessensgruppen führt. Das hat sein Gutes. Die Menschen können ihre Anliegen äussern und dafür sorgen, dass diese auch berücksichtigt werden. Es hat jedoch eine Kehrseite: «Es wird immer schwieriger, dass neue Dinge auch realisiert werden», so Klein/Thomson.
Vor allem der wohlhabende Teil der Bevölkerung hat auch die Mittel, den Rechtsstaat bis zur Erschöpfung auszunutzen. «Wenn die Reichen etwas verhindern wollen, dann wissen sie, wie sie sich organisieren müssen», so Klein/Thomson. Wohlstand führt zudem zu einer wachsenden Anzahl von Experten, während die eigentlichen Macher an Boden verlieren. «Das schafft einen Anreiz für die klügsten Köpfe, zu Experten der Komplexität zu werden», so Klein/Thomson. Das Resultat davon ist: In der Wirtschaft geben immer öfter Berater den Ton an, in der Politik Juristen.
Was dies zur Folge hat, zeigt sich am Beispiel des kalifornischen Hochleistungszugs. «Die Behörden haben sich pingelig an das Gesetz gehalten, aber diese Gesetze haben den Bau des Zuges verunmöglicht», so Klein/Thomson.
Es soll nun keineswegs der Rechtsstaat infrage gestellt oder gar einer Pöbel-Demokratie das Wort gesprochen werden. Dass die Mühlen des Gesetzes langsamer mahlen als diejenigen der Politik, hat gute Gründe. Auch die Gesetze selbst sind nicht vom Himmel gefallen. Das absolut verantwortungslose Umweltverhalten der Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg hat sie notwendig gemacht, ebenso die Gesetze, welche die Interessen der Konsumenten schützen. Das Problem stellt sich dann, wenn sie alles Neue abwürgen.
An diesem Problem ist die Biden-Regierung gescheitert. Es ist ihr zwar gelungen, ein Gesetz zur Erneuerung der Infrastruktur durch den Kongress zu schleusen, ebenso einen Green New Deal. Es ist ihr jedoch nicht gelungen, diese Gesetze zeitnah umzusetzen. Strassen, Brücken, Breitband für ländliche Gegenden und Ladestationen – alles ist gesetzlich ermöglicht, in der Praxis jedoch nur ansatzweise verwirklicht worden.
Bidens ehemaliger Sicherheitsberater Jake Sullivan klagt daher gegenüber Ezra Klein: «Ob Infrastruktur, Unterseeboote, Elektrizitätswerke, Stromnetze oder Chip-Fabriken – es ist ein Wahnsinn, was wir alles aufgegleist haben. Was ich jedoch in meinen vier Jahren als Sicherheitsberater erlebt habe, ist der konstante Zuwachs an Hindernissen, irgendetwas davon auch zu verwirklichen. Es war eine riesige Frustration. Wirklich riesig.»
Das Resultat der progressiven Verhinderungstaktik beschreiben Klein/Thomson wie folgt: «Weil alles so langsam gegangen ist, besteht die bittere Ironie darin, dass die Trump-Regierung jetzt von den Gesetzen der Biden-Regierung profitieren wird.»
Das Fazit von Klein/Thomson lautet deshalb: Die Linke kann sich nicht mehr länger darauf versteifen, die Nachfrage zu regulieren. Sie muss sich auch um das Angebot kümmern. «Wenn es zu wenig Wohnungen gibt, können wir mehr bauen? Wenn es zu wenig saubere Energie gibt, können wir mehr davon produzieren?»
Zeit, dass sich diese Einsicht auch bei den Zürcher Alternativen durchsetzt.