
Sag das doch deinen Freunden!
Seit ein paar Tagen läuft in den Schweizer Kinos der Film «The Big Short», vor ein paar Monaten sind die Memoiren von Ben Bernanke, dem ehemaligen Präsidenten der US-Notenbank (Fed), erschienen. Der Film ist ein Must, das Buch die ideale Lektüre für die nächsten Ferien. Beide erinnern daran, was wir bereits wieder verdrängt haben: Unser Bankensystem ist äusserst krisenanfällig – und die nächste Krise könnte die letzte sein. Aber der Reihe nach:
«The Big Short» beruht auf dem gleichnamigen Buch von Michael Lewis, dem wohl bekanntesten und unterhaltsamsten Chronisten der US-Finanzwelt. Lewis versteht es immer wieder, komplexe Zusammenhänge und exotische Finanzprodukte zu erklären und gleichzeitig mit Witz und Ironie zu verbinden. Auch Regisseur Adam McKay schafft diesen Spagat mit Bravour. Die «Financial Times» stellt deshalb fest:
Zur Handlung: Im Vorfeld der Subprime-Krise erkennen ein paar wenige Exoten, dass etwas sehr faul geworden ist im US-Finanzsystem. Dazu gehören: Ein zum Hedge-Fund-Manager mutierter ehemaliger Arzt mit Asperger-Syndrom (Christian Bale), ein Aussenseiter bei der Deutschen Bank (Ryan Gosling), ein jähzorniger Fund-Manager bei Morgan Stanley (Steve Carell) und zwei Garagen-Investoren, die von einem desillusionierten Investmentbanker (Brad Pitt) beraten werden.
Die amerikanische Wirtschaft boomte 2006/2007 und schien bärenstark zu sein. Ökonomen sprachen von der «Grossen Beruhigung» (Great Moderation) und davon, dass die Konjunkturzyklen endgültig gebändigt seien. Dank neuen Finanzinstrumenten sei die Quadratur des Zirkels gelungen: Wohneigentum auch dem unteren Mittelstand und den Banken traumhafte Renditen zu ermöglichen.
In Wirklichkeit war es der Wall Street gelungen, das wohl gigantischste Schneeballsystem aller Zeiten zu errichten. Mit den komplexen, selbst für Profis kaum verständlichen Finanzinstrumenten war ein Kasino entstanden, indem ein paar wenige nach Herzenslust im grossen Stil und ohne Risiko abzocken konnten. Sie wussten, am Schluss würde der Steuerzahler für den Verlust aufkommen müssen.
Hier ein kurzer Erklär-Einschub: Tragender Pfeiler des Immobilienbooms waren die sogenannten Collateral Debt Obligations. Eine CDO besteht aus zerhackten und neu gebündelten Hypotheken, die tranchenweise an Investoren verkauft werden. Der treffende Vergleich im Film: Reste von unverkauften Fischen werden zusammengemischt und als einzelne Portionen neu verkauft. Eine synthetische CDO ist eine Wette darauf, wie eine bestimmte CDO performen wird. Und um es ganz verrückt zu machen: Man konnte auch synthetische CDOs auf synthetische CDOs abschliessen.
Auf diese Weise war es möglich, mit einer verhältnismässig kleinen Summe ein riesiges Rad zu drehen, etwa mit 100 Millionen Dollar eine Wette auf über 50 Milliarden Dollar einzugehen. Als ob dies nicht schon genug wäre, sollte sich bald herausstellen, dass diejenigen, die das alles hätten bezahlen müssen, längst pleite waren. Die Häuser waren nämlich zu Lockvogel-Hypotheken an Menschen veräussert worden, die in keiner Art und Weise in der Lage waren, die realen Hypozinsen zu begleichen. Wie bei jedem Schneeballsystem waren Zahlungsausfälle damit nur eine Frage der Zeit – und ab 2007 wurden sie denn auch Tatsache.
Die Folgen für das US-Finanzsystem waren verheerend. Zuerst erwischte es die Investmentbank Bear Stearns. Sie konnte im letzten Moment mit gütiger Hilfe von Fed und Finanzministerium für einen Spottpreis von JPMorgan übernommen werden. Bei Lehman Brothers war keine Rettung mehr möglich. «Wir alle wussten, dass man auch Lehman hätte retten müssen, aber wir hatten die Mittel dazu nicht», schreibt Bernanke in seinem Buch «The Courage to Act».
Der Kollaps von Lehman führte das internationale Finanzsystem an den Rand des Abgrundes. Eine Kettenreaktion schien unausweichlich. Die besten Häuser an der Wall Street gerieten ins Wanken: Merryll Lynch (wurde später von der Bank of America übernommen) war in äusserster Gefahr, selbst Goldman Sachs (Goldman Sachs!!!) war nicht mehr sicher. Der Staat und die Fed mussten eingreifen und einen Rettungsplan in der Höhe von 780 Milliarden Dollar zur Verfügung stellen. Dieses Programm – Tarp genannt – war bei der Bevölkerung äusserst unpopulär und vergiftet bis heute das politische Klima in den USA.
Die grösste Gefahr ging jedoch nicht von den Wall-Street-Banken aus, sondern von einer Versicherung: AIG. An ihrem Schicksal lässt sich aufzeigen, was in einer Finanzkrise für völlig unvorhersehbare Prozesse in Gang gesetzt werden. AIG war nicht nur die grösste Versicherung der USA, sondern weltweit, und hatte den Ruf, vollkommen krisensicher sein. Eine Pleite von AIG schien undenkbar.
Dann begann eine kleine Abteilung innerhalb von AIG, Versicherungen gegen Zahlungsausfälle abzuschliessen. Wer beispielsweise eine Obligation kaufte und absolute Sicherheit suchte, der konnte eine solche Versicherung erwerben. Das setzte eine tödliche Spirale in Gang: AIG galt als ultraseriös. Banken die CDOs kauften und sich bei AIG versicherten, mussten diese mit wenig Eigenkapital unterlegen.
Solange das Schneeballsystem funktionierte, gab es daher nur Gewinner: AIG kassierte Versicherungsprämien und die Investmentbanken konnten mit einer hauchdünnen Eigenkapitalquote gewaltige Wetten eingehen. Gerade die vermeintliche Sicherheit von AIG wurde somit zum grössten Unsicherheitsfaktor im gesamten Finanzsystem.
Anders als bei Lehman hatten Regierung und Fed gar keine andere Wahl, als AIG zu retten. Ein Bankrott der Versicherung hätte eine Kettenreaktion ausgelöst, die mit Sicherheit das internationale Finanzsystem zerstört hätte. Die Rettung sollte am Schluss den US-Steuerzahler mehr als 200 Milliarden Dollar kosten. «Aber ich sah keine Alternative, als AIG das Darlehen zu gewähren», stellt Bernanke fest.
Im Film sieht der Fund-Manager von Morgan Stanley im Platzen der Subprime-Blase das Ende des Kapitalismus. So weit daneben lag er mit dieser Einschätzung gar nicht. Ben Bernanke, der die Blase zwar zu spät erkannt und als zu wenig relevant eingeschätzt hatte – was er selbst zugibt – machte nachher alles richtig.
Als profunder Kenner der Depression der Dreissigerjahre wusste er, dass er alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen und das Geldsystem fluten musste, um eine Katastrophe zu vermeiden. Und gegen den teilweise erbitterten Widerstand seiner eigenen Partei, den Republikanern, tat er es auch. Andernfalls hätte, wie Bernanke schreibt, «die Nation einen Wirtschaftskollaps erlitten, der sehr viel schlimmer gewesen wäre als die Flaute, die eingetreten ist.»
Das ist mehr als ein Understatement. Adam S. Posen, ein renommierter Finanzprofessor und ehemaliges Mitglied des Aufsichtsrats der Bank of England, stellt in seiner Rezension der Bernanke-Memoiren in «Foreign Affairs» klar: Bernankes Mut, gegen feige Politiker und eine rasende Volksseele anzutreten, hat eine Katastrophe verhindert. Die Gefahr ist jedoch noch nicht gebannt. Im Gegenteil: Das Finanzsystem ist nach wie vor mit grossen Risiken behaftet. «Mit dem Resultat», so Posen, «dass beim nächsten Crash das System noch leichter und schneller ausser Kontrolle geraten wird.»