
Brad Pitt als geläuterter Investmentbanker im Film «The Big Short».
Der
Film «The Big Short» und die Memoiren von Ben Bernanke zeigen auf, wie knapp
die Welt im Herbst 2008 an einer Kernschmelze des internationalen Finanzsystems
vorbeischrammte.
04.01.2016, 15:5505.01.2016, 14:56

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Seit ein paar Tagen läuft in den Schweizer
Kinos der Film «The Big Short», vor ein paar Monaten sind die Memoiren von Ben
Bernanke, dem ehemaligen Präsidenten der US-Notenbank (Fed), erschienen. Der
Film ist ein Must, das Buch die ideale Lektüre für die nächsten Ferien. Beide
erinnern daran, was wir bereits wieder verdrängt haben: Unser Bankensystem ist äusserst
krisenanfällig – und die nächste Krise könnte die letzte sein. Aber der Reihe
nach:
«The Big Short» beruht auf dem gleichnamigen
Buch von Michael Lewis, dem wohl bekanntesten und unterhaltsamsten Chronisten
der US-Finanzwelt. Lewis versteht es immer wieder, komplexe Zusammenhänge und
exotische Finanzprodukte zu erklären und gleichzeitig mit Witz und Ironie zu
verbinden. Auch Regisseur Adam McKay schafft diesen Spagat mit Bravour. Die
«Financial Times» stellt deshalb fest:
«Der Film schafft es, das Wesen einer synthetischen CDO zu erläutern und dies mit dem Geist eines Filmes wie ‹Ocean’s Eleven› zu verbinden.»
Financial Times

Ryan Gosling verhindert als Jared Vennett Schlimmeres bei der Deutschen Bank.
Zur Handlung: Im Vorfeld der Subprime-Krise
erkennen ein paar wenige Exoten, dass etwas sehr faul geworden ist im
US-Finanzsystem. Dazu gehören: Ein zum Hedge-Fund-Manager mutierter ehemaliger
Arzt mit Asperger-Syndrom (Christian Bale), ein Aussenseiter bei der Deutschen
Bank (Ryan Gosling), ein jähzorniger Fund-Manager bei Morgan Stanley (Steve Carell) und zwei Garagen-Investoren, die von einem desillusionierten
Investmentbanker (Brad Pitt) beraten werden.
Wall Street fabrizierte den grössten Finanz-Schneeball aller Zeiten
Die amerikanische Wirtschaft boomte 2006/2007 und schien bärenstark zu sein. Ökonomen sprachen von der
«Grossen Beruhigung» (Great Moderation) und davon, dass die Konjunkturzyklen
endgültig gebändigt seien. Dank neuen Finanzinstrumenten sei die Quadratur des
Zirkels gelungen: Wohneigentum auch dem unteren Mittelstand und den Banken
traumhafte Renditen zu ermöglichen.
In Wirklichkeit war es der Wall Street
gelungen, das wohl gigantischste Schneeballsystem aller Zeiten zu errichten.
Mit den komplexen, selbst für Profis kaum verständlichen Finanzinstrumenten war
ein Kasino entstanden, indem ein paar wenige nach Herzenslust im grossen Stil
und ohne Risiko abzocken konnten. Sie wussten, am Schluss würde der
Steuerzahler für den Verlust aufkommen müssen.

Christian Bale mimt den genialen, aber leicht autistischen Dr. Burry.
Erklärbär-Einschub CDO und synthetische CDO
Hier ein kurzer Erklär-Einschub: Tragender
Pfeiler des Immobilienbooms waren die sogenannten Collateral Debt Obligations. Eine
CDO besteht aus zerhackten und neu gebündelten Hypotheken, die tranchenweise an
Investoren verkauft werden. Der treffende Vergleich im Film: Reste von
unverkauften Fischen werden zusammengemischt und als einzelne Portionen neu verkauft. Eine synthetische CDO ist eine Wette darauf,
wie eine bestimmte CDO performen wird. Und um es ganz verrückt zu machen: Man konnte
auch synthetische CDOs auf synthetische CDOs abschliessen.
«Wir alle wussten, dass man auch Lehman hätte retten müssen, aber wir hatten die Mittel dazu nicht.»
Ben Bernanke
Auf diese Weise war es möglich, mit einer
verhältnismässig kleinen Summe ein riesiges Rad zu drehen, etwa mit 100
Millionen Dollar eine Wette auf über 50 Milliarden Dollar einzugehen. Als ob
dies nicht schon genug wäre, sollte sich bald herausstellen, dass diejenigen,
die das alles hätten bezahlen müssen, längst pleite waren. Die Häuser waren
nämlich zu Lockvogel-Hypotheken an Menschen veräussert worden, die in keiner
Art und Weise in der Lage waren, die realen Hypozinsen zu begleichen. Wie bei
jedem Schneeballsystem waren Zahlungsausfälle damit nur eine Frage der Zeit –
und ab 2007 wurden sie denn auch Tatsache.

Steve Carell als jähzorniger Fund-Manager.
Die Folgen für das US-Finanzsystem waren
verheerend. Zuerst erwischte es die Investmentbank Bear Stearns. Sie konnte im
letzten Moment mit gütiger Hilfe von Fed und Finanzministerium für einen
Spottpreis von JPMorgan übernommen werden. Bei Lehman Brothers war keine
Rettung mehr möglich. «Wir alle wussten, dass man auch Lehman hätte retten
müssen, aber wir hatten die Mittel dazu
nicht», schreibt Bernanke in seinem Buch «The Courage to Act».
Die besten Häuser an der Wall Street gerieten ins Trudeln
Der Kollaps von Lehman führte das
internationale Finanzsystem an den Rand des Abgrundes. Eine Kettenreaktion
schien unausweichlich. Die besten Häuser an der Wall Street gerieten ins
Wanken: Merryll Lynch (wurde später von der Bank of America übernommen) war in
äusserster Gefahr, selbst Goldman Sachs (Goldman Sachs!!!) war nicht mehr
sicher. Der Staat und die Fed mussten eingreifen und einen Rettungsplan in der
Höhe von 780 Milliarden Dollar zur Verfügung stellen. Dieses Programm – Tarp
genannt – war bei der Bevölkerung äusserst unpopulär und vergiftet bis heute
das politische Klima in den USA.
Die grösste Gefahr ging jedoch nicht von den
Wall-Street-Banken aus, sondern von einer Versicherung: AIG. An ihrem Schicksal
lässt sich aufzeigen, was in einer Finanzkrise für völlig unvorhersehbare
Prozesse in Gang gesetzt werden. AIG war nicht nur die grösste Versicherung der
USA, sondern weltweit, und hatte den Ruf, vollkommen krisensicher sein. Eine
Pleite von AIG schien undenkbar.
«Beim nächsten Crash wird das System noch leichter und schneller ausser Kontrolle geraten.»
Adam S. Posen
Dann begann eine kleine Abteilung innerhalb
von AIG, Versicherungen gegen Zahlungsausfälle abzuschliessen. Wer
beispielsweise eine Obligation kaufte und absolute Sicherheit suchte, der
konnte eine solche Versicherung erwerben. Das setzte eine tödliche Spirale in
Gang: AIG galt als ultraseriös. Banken die CDOs kauften und sich bei AIG
versicherten, mussten diese mit wenig Eigenkapital unterlegen.
Wie sich Sicherheit rasch in Unsicherheit verwandelt hat
Solange das Schneeballsystem funktionierte,
gab es daher nur Gewinner: AIG kassierte Versicherungsprämien und die
Investmentbanken konnten mit einer hauchdünnen Eigenkapitalquote gewaltige
Wetten eingehen. Gerade die vermeintliche Sicherheit von AIG wurde somit zum
grössten Unsicherheitsfaktor im gesamten Finanzsystem.

Ben Bernanke verlässt zum letzten Mal sein Büro im Fed.
Bild: Getty Images North America
Anders als bei Lehman hatten Regierung und Fed
gar keine andere Wahl, als AIG zu retten. Ein Bankrott der Versicherung hätte
eine Kettenreaktion ausgelöst, die mit Sicherheit das internationale
Finanzsystem zerstört hätte. Die Rettung sollte am Schluss den US-Steuerzahler
mehr als 200 Milliarden Dollar kosten. «Aber ich sah keine Alternative, als AIG
das Darlehen zu gewähren», stellt Bernanke fest.
Ben Bernanke musste das Finanzsystem gegen den Widerstand der eigenen Partei retten
Im Film sieht der Fund-Manager von Morgan
Stanley im Platzen der Subprime-Blase das Ende des Kapitalismus. So weit
daneben lag er mit dieser Einschätzung gar nicht. Ben Bernanke, der die Blase
zwar zu spät erkannt und als zu wenig relevant eingeschätzt hatte – was er
selbst zugibt – machte nachher alles richtig.
Als profunder Kenner der Depression der
Dreissigerjahre wusste er, dass er alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel
einsetzen und das Geldsystem fluten musste, um eine Katastrophe zu vermeiden.
Und gegen den teilweise erbitterten Widerstand seiner eigenen Partei, den
Republikanern, tat er es auch. Andernfalls hätte, wie Bernanke schreibt, «die
Nation einen Wirtschaftskollaps erlitten, der sehr viel schlimmer gewesen wäre
als die Flaute, die eingetreten ist.»

Empfohlene Lektüre für die nächsten Ferien.
Bild: J. David Ake/AP/KEYSTONE
Das ist mehr als ein Understatement. Adam S.
Posen, ein renommierter Finanzprofessor und ehemaliges Mitglied des Aufsichtsrats der
Bank of England, stellt in seiner Rezension der Bernanke-Memoiren in «Foreign
Affairs» klar: Bernankes Mut, gegen feige Politiker und eine rasende Volksseele
anzutreten, hat eine Katastrophe verhindert. Die Gefahr ist jedoch noch nicht
gebannt. Im Gegenteil: Das Finanzsystem ist nach wie vor mit grossen Risiken
behaftet. «Mit dem Resultat», so Posen, «dass beim nächsten Crash das System
noch leichter und schneller ausser Kontrolle geraten wird.»
Die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) geht davon aus, dass die US-Wirtschaft geradeso einer Rezession entkommen kann. «Wir sind uns bewusst, dass der Weg zur Vermeidung einer Rezession in den USA immer schmaler wird», sagte sie am Freitag in Washington.