Der Internationale Währungsfonds und die OECD haben beide kürzlich erklärt, die deutsche Wirtschaft sei derzeit die schlechteste von allen führenden Volkswirtschaften der Welt. Das deutsche Bruttoinlandprodukt ist in der ersten Jahreshälfte um 0,35 Prozent geschrumpft. Was läuft da schief?
Tomasz Wieladek: Es sind mehrere Probleme, welche die deutsche Wirtschaft beeinträchtigen. So ist das Zeitalter der billigen Energie mit dem Ukraine-Krieg zu Ende gegangen. Das bedeutet auch, dass sich ein Strukturwandel vollzieht.
Was heisst das konkret?
Ein Teil der Wirtschaft wird mit Sicherheit in Länder verlegt werden, in denen die Energie billiger und sicher ist. Zum Beispiel in die Vereinigten Staaten.
Oder nach China, wie es der Chemie-Konzern BASF angekündigt hat.
Richtig. Allerdings, ob dies wirklich eine so gute Idee ist, wird sich weisen müssen.
Das Herz der deutschen Wirtschaft ist die Autoindustrie.
Ja, und sie hat den Trend zu Elektroautos verschlafen. Inzwischen haben VW & Co. eigene Produkte, doch im Vergleich zu Tesla und den asiatischen Elektroautos sind die deutschen viel teurer.
Weshalb?
Der Euro mag gegenüber dem Schweizer Franken und dem Dollar relativ schwach sein, gegenüber dem Yuan ist er jedoch derzeit bärenstark. Und nun will die chinesische Zentralbank auch noch den Leitzins senken, um die Wirtschaft anzukurbeln und gegen eine drohende Deflation anzukämpfen. In Europa hingegen haben wir nach wie vor eine zu hohe Inflation. Deshalb wird die Europäische Zentralbank den Leitzins im September voraussichtlich nochmals erhöhen. Der Euro wird daher gegenüber dem Yuan stark bleiben. Das wiederum schwächt die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte.
Lässt sich das kurzfristig überhaupt ändern?
Nein, ich sehe kein Szenario, wie die deutsche Wirtschaft von heute auf morgen wieder wettbewerbsfähig werden kann.
Rächt es sich nun, dass die deutsche Wirtschaft jahrelang von einem für sie zu billigen Euro profitiert hat?
So würde ich dies nicht formulieren. Es ist primär der Yuan, die chinesische Währung, welche der deutschen Wirtschaft zusetzt. Vor allem in den Schwellenländern haben deutsche Produkte einen schweren Stand, und die Märkte in diesen Ländern sind mittlerweile riesig. Denken Sie bloss an China.
China ist ein bedeutender Markt für die deutsche Wirtschaft, und die chinesische Wirtschaft ist in der Krise.
Die Nachfrage nach deutschen Produkten wird in China deutlich nachlassen – oder sie müssen mit einer deutlich kleineren Gewinnmarge verkauft werden.
Was setzt der deutschen Wirtschaft sonst noch zu?
Die Immobilienpreise sind in Deutschland im ersten Quartal nominal um beinahe sieben Prozent gesunken. In der Nachkriegszeit hat es noch nie einen solchen Preiszerfall gegeben. Gleichzeitig sind wegen der Inflation die Zinsen gestiegen. Die Folge davon ist, dass viele Haushalte versuchen werden, ihre Hypotheken zurückzuzahlen, und das wiederum bedeutet, dass deutsche Haushalte weniger Geld für den Konsum zur Verfügung haben. Das werden auch die Dienstleistungen zu spüren bekommen.
Wie ist die deutsche Wirtschaft in diese Falle getappt?
Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) war nicht auf die Bedürfnisse der deutschen Wirtschaft ausgerichtet. Die Leitzinsen waren lange zu tief, was zur Folge hatte, dass der deutsche Immobilienmarkt überhitzte. Deshalb sind die Preise viel zu rasch in die Höhe geschnellt. Jetzt fallen sie zu rasch. Das wird auch die Binnenwirtschaft beeinflussen. Daher halte ich es für möglich, dass Deutschland nächstes Jahr in einer Rezession verharren wird.
Deutschland befindet sich somit in einem Zustand, der gemeinhin als «perfekter Sturm» bezeichnet wird. Wie weit ist dies Pech und wie weit eigenes Verschulden?
Die äusseren Faktoren kann man als «perfekten Sturm» bezeichnen. Das eigene Verschulden liegt in einer verfehlten Geldpolitik in den letzten zehn Jahren. Deutschland hätte die expansive Geldpolitik der EZB nicht nötig gehabt. Und die Banken haben wegen der tiefen Zinsen zu viele Hypotheken erteilt. Jetzt folgt die Quittung: höhere Schulden und höhere Zinsen.
Derzeit streiten sich die Experten darüber, wer daran schuld ist. Ist es die aktuelle Ampelregierung? Oder muss diese Regierung die Altlasten ihrer Vorgänger ausbügeln? Was glauben Sie?
Sowohl die Energiepolitik wie der Glaube an den «Wandel durch Handel» sind Langzeitprojekte. Beide wurden von allen Parteien getragen. Daher kann man die Schuld nicht einer Regierung in die Schuhe schieben. Aber was die Ampel-Koalition mit der massiven Erhöhung der Minimallöhne gemacht hat, erweist sich nun nachträglich als Fehler.
Als diese Politik angekündigt wurde, war Inflation noch kein Thema.
Richtig. In der aktuellen Situation schwächt sie jedoch die Wirtschaft zusätzlich.
Dafür wurde die Binnenwirtschaft gestärkt und die grossen Lohn-Ungleichheiten zumindest ein bisschen abgeschwächt. Jetzt aber werden Stimmen laut, die wieder eine grosse Strukturreform fordern, eine Reform wie Gerhard Schröders «Agenda 2010». Stimmen Sie ebenfalls in diesen Chor ein?
Die «Agenda 2010» war primär eine Arbeitsmarktreform. Sie hat dazu geführt, dass viele Frührentner – Leute, die sich noch im Alter von 50 Jahren befunden haben – wieder in den Arbeitsmarkt eingestiegen sind. Das war damals sehr positiv. Heute hat Deutschland jedoch andere Probleme.
Die da sind?
Wegen der Schuldenbremse spart Deutschland zu viel.
Die Schweiz hat auch eine Schuldenbremse.
Ich weiss, aber in der Schweiz hat die Regierung deswegen nicht die Investitionen in die Infrastruktur vernachlässigt. Das war in Deutschland der Fall. Die fehlenden Investitionen in die Infrastruktur wirken sich nun negativ aus.
Erweist sich die jahrelange Fixierung auf die «schwarze Null», die geradezu manische Fixierung auf einen ausgeglichenen Staatshaushalt, jetzt nachträglich als Fehler? Frankreich kennt diese Fixierung nicht, und die französische Wirtschaft brummt derzeit.
Grundsätzlich ist eine Schuldenbremse eine gute Sache. Der Fehler liegt darin, dass stets zuerst die Investitionen gestrichen werden, wenn die Rechnung nicht mehr aufgeht. Das muss nicht sein. Ich halte ein System für möglich, das auch mit einer Schuldenbremse die Investitionen in die Infrastruktur nicht vernachlässigt.
Und weshalb fährt Frankreich ohne Schuldenbremse derzeit besser als Deutschland?
Es stimmt, dass die Wachstumszahlen der französischen Wirtschaft derzeit besser aussehen als diejenigen der deutschen. Und es stimmt auch, dass die Franzosen deutlich mehr in ihre Infrastruktur investiert haben als die Deutschen. Die Franzosen haben aber vor allem im zweiten Quartal mit ihren Exporten sehr viel Glück gehabt, und ich glaube nicht, dass dies so bleiben wird.
Die Schweiz als kleines und reiches Land kann sich eine Schuldenbremse leisten, zumindest solange die Wirtschaft läuft. Doch bei den Grossen sieht es anders aus. In den USA beispielsweise sind die Chancen gut, dass ein Softlanding der Wirtschaft gelingen wird. Hätten die Amerikaner eine Schuldenbremse, würde es wohl anders aussehen.
Die Amerikaner sparen nicht sehr viel, daher wird diese Politik möglicherweise an ihre Grenzen stossen. Die Zinsen auf amerikanische Staatsanleihen steigen seit einiger Zeit. Nicht jeder kann sein wie Japan, ein Land mit einer sehr hohen Sparquote. Das heisst nicht, dass ich nicht daran glaube, dass man in Deutschland die Schuldenbremse lockern könnte.
Nach der Eurokrise haben die Deutschen vor allem den südlichen Ländern Europas eine sogenannte Austerity-Politik aufgezwungen. Verhindert der ordoliberale Dogmatismus nicht, dass eine solche Lockerung der Schuldenbremse auch erfolgt?
Mag sein, doch es gibt auch gute Gründe für das Verhalten der Deutschen. Italien beispielsweise hat bekanntlich eine sehr hohe Staatsverschuldung. Deshalb stagniert die italienische Wirtschaft nun seit Jahrzehnten, und die EZB wird ihre italienischen Staatsanleihen nicht so schnell wieder loswerden. Deshalb glauben die Deutschen auch, sie müssten ein Vorbild für alle anderen in Europa sein. Und vergessen wir nicht: Was die EU zusammenhält, ist die Fiskalpolitik Deutschlands.
Ist die aktuelle Wirtschaftskrise somit auch eine Gefahr für Europa?
Ja, ganz klar.
Was kann dagegen unternommen werden?
Schwierig. Derzeit deutet vieles auf eine Rezession in Europa hin. Wegen der nach wie vor hartnäckigen Inflation wird die EZB die Leitzinsen im September nochmals anheben müssen.
Die jüngsten Zahlen zeigen jedoch, dass auch in Europa die Inflation sinkt.
Die Kerninflation ist immer noch zu hoch. Sie wird wahrscheinlich schwächer werden, weil der Güter-Boom nach dem Ende des Lockdowns vorbei ist. Das Problem sind die Löhne. Wenn es normal wird, dass im Euroraum der Lohn jedes Jahr um fünf bis sechs Prozent steigt, wird die Dienstleistungs-Inflation nach wie vor stark bleiben. Genau das befürchtet die EZB, und sie hat zumindest teilweise recht.
Was kann denn Europa helfen, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen?
Wichtig ist, dass die Gaspreise niedrig bleiben. Das hängt vom Wetter und der Entwicklung in der Ukraine ab. Hilfreich wäre auch, wenn die EZB Ende Jahr beginnen würde, die Leitzinsen wieder aggressiv zu senken. Angesichts der Schwäche der realen Wirtschaft halte ich dies für möglich.
Die deutsche Regierung stellt Milliarden zur Verfügung, um die Chip-Herstellung im eigenen Land zu ermöglichen. Ist das sinnvoll – oder eine Geldverschwendung?
Was Deutschland in erster Linie braucht, ist weniger Bürokratie. Was die Industriepolitik betrifft: Ja, Deutschland darf ein bisschen aktiver werden. Angesichts der geopolitischen Entwicklungen ist es auch sinnvoll, dass Deutschland die Herstellung von Halbleitern sicherstellen will, nicht nur für die Zukunft der Autoindustrie, sondern für die Zukunft der gesamten Industrie. Daher halte ich die Milliarden für die Chip-Fabriken für eine gute Investition.
Wird Deutschland seine Rolle als Lokomotive der europäischen Wirtschaft bewahren können, oder wird es einmal mehr zum «kranken Mann Europas» werden?
«Kranker Mann» ist nicht die richtige Bezeichnung. Deutschland braucht einen strukturellen Wandel, die Wirtschaft muss sich an die veränderten Umstände des digitalen Zeitalters anpassen. Bloss Luxus-Autos mit Verbrennermotoren herzustellen, wird nicht mehr reichen. Diese Umstellung wird ein bisschen dauern, das geschieht nicht über Nacht. Ohne die Explosion der Gaspreise hätte diese Umstellung viel länger gedauert. Jetzt muss es plötzlich geschehen. Das bedeutet auch, dass es zumindest zeitweise zu einer Stagnation der Wirtschaft kommen wird.
Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Werden auch wir unter dieser Stagnation zu leiden haben?
Ich fürchte ja. Ich kann mir gar eine Rezession in der Schweiz vorstellen. Daher verstehe ich die aggressive Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank (SNB) nicht. Allgemein wird davon ausgegangen, dass sie die Leitzinsen nochmals erhöhen wird. Dabei wissen wir, dass Energie und Nahrungsmittel nur einen kleinen Teil des Haushaltsbudgets einer Schweizer Familie ausmachen. Zudem liegt die Inflation in der Schweiz bereits bei rund zwei Prozent. Es gibt daher keinen Grund, die Leitzinsen weiter aggressiv anzuheben, zumal die reale Wirtschaft darunter leiden wird.
Früher haben mir Leute erzählt, Deutschland sei gegenüber Polen, Ungarn oder Spanien so reich, weil die Deutschen Arbeiter besser und produktiver arbeiten würden.
Jetzt hängt Reichtum plötzlich von Zinsentscheidungen der (E)ZB ab, die anscheinend mal richtig, mal falsch sind.