Die jüngsten Finanzmarktturbulenzen und die Rückkehr des Rezessionsgespenstes werfen ein Schlaglicht auf die internationale Konjunkturentwicklung. Obschon es seit langer Zeit kein modernes Industrieland mehr gibt, das das Auf und Ab der Wirtschaft allein dem Zufall beziehungsweise den Kräften der Märkte überlassen würde, lassen scheinbar unvermittelte Umschwünge der wirtschaftlichen Stimmung immer wieder die Unberechenbarkeit der Konjunktur zutage treten.
Noch vor wenigen Wochen herrschte in der Zunft der Bankökonomen weitgehende Einigkeit darüber, dass die amerikanische Notenbank der überhitzten US-Wirtschaft eine «weiche Landung» ohne Rezession bereiten könne. Ein paar neue Arbeitsmarktdaten haben gereicht, um diese vermeintliche Gewissheit über den Haufen zu werfen und die Befürchtung zu nähren, dass die Dollarwächter mit der für September erwarteten Leitzinssenkung doch etwas zu lange gewartet haben könnten.
Überraschendes spielte sich vergangene Woche auch in Deutschland ab. Die grösste und für die Schweiz mit Abstand wichtigste Volkswirtschaft in Europa ist im zweiten Quartal des Jahres um 0,1 Prozent geschrumpft. Nicht nur die Ökonomen der Deutschen Bank zeigten sich erstaunt und enttäuscht, dass die zarte Erholung in den ersten Monaten «keinen festen Tritt fassen» konnte.
Zwar sind die statistischen Daten aus Wiesbaden noch von provisorischer Natur und aus technischen Gründen anfälliger als sonst für spätere Revisionen nach oben oder auch nach unten. Ins Auge fällt dennoch: Rückläufige Ausrüstungsinvestitionen in der Industrie haben einen wesentlichen Anteil an dem ernüchternden Konjunkturbild beim grossen Nachbarn.
Jan-Egbert Sturm, Leiter der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich, ist nicht verwundert: «Wir beobachten in Deutschland und in ganz Europa schon seit langer Zeit eine deutliche Investitionsschwäche.» Über deren Ursachen und ihre Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum ist man sich in der Forschung noch nicht im Klaren. «Vielleicht liegt dem Phänomen eine strukturelle Veränderung bei den Ausrüstungsinvestitionen zugrunde», meint der Wirtschaftsprofessor, «mehr kurzfristige Softwareinvestitionen und weniger langlebige Güter wie Maschinen, das wäre sozusagen die gute Variante».
Möglicherweise fehle es in der europäischen Unternehmenslandschaft aber auch grundsätzlicher am Zukunftsglauben, am Vertrauen in die Politik und in die von dieser gesetzten Rahmenbedingungen, die Investitionen begünstigen, aber auch behindern könnten. «Das wäre dann die schlechte Variante, weil sie quasi selbst verschuldet ist», sagt der KOF-Leiter.
Es ist offensichtlich, dass gewisse Schlüsselindustrien in Deutschland die Zeichen der Zeit zu spät erkannt und wichtige Investitionen lange vernachlässigt haben. Die Grosschemie kämpft mit dem kriegsbedingten Anstieg der Rohstoffpreise, die man sich zuvor gern von Russland «subventionieren» liess. Aus ähnlichen Gründen fällt auch den Automobilherstellern die Anpassung an den Technologiewandel besonders schwer.
Ob aber die Probleme dieser Branchen allein schon die Diagnose einer «Strukturkrise» stützen, wie sie deutsche Medien derzeit gerade sehr oft stellen, steht auf einem anderen Blatt. Unbestritten bleibt aber die Tatsache der Investitionsschwäche.
Dass diese in ganz Europa grassiert, zeigen nicht zuletzt die vielen multinationalen Schweizer Konzerne, welche Gewinne ihrer Tochterfirmen aus aller Welt ebenfalls nur zurückhaltend investieren und lieber die Aktionäre bedienen. Der jährliche Dividendenreport der «Aargauer Zeitung» hat im April zum wiederholten Mal gezeigt: Während die Gewinne der 30 grössten Schweizer Börsenfirmen seit 2010 um durchschnittlich 45 Prozent zugenommen haben, stiegen die Dividendenausschüttungen in der gleichen Zeit um 76 Prozent.
Der Gedanke liegt nahe, dass der jährliche Dividendenreigen seinen Anteil hat an der Entkoppelung zwischen Real- und Finanzwirtschaft. Für Jan-Egbert Sturm und andere Konjunkturprognostiker ist diese Entkoppelung längst ein Fakt, der sich im Lauf der vergangenen Jahrzehnte noch deutlich akzentuiert hat.
Für den Prognostiker mag das Auf und Ab der Finanzmärkte zwar kein verlässlicher Indikator für die Wirtschaftsentwicklung sein. Aber ignorieren kann er sie trotzdem nicht. Heftige Bewegungen an den Finanzmärkten sind erfahrungsgemäss geeignet, die Konjunkturplaner auf Trab zu bringen und diese zu Massnahmen zu verleiten, die letztlich auch die Schwankungsanfälligkeit der Konjunktur wieder verstärken und die Arbeit der Prognostiker erschweren können.
Vor genau zwanzig Jahren hatte der frühere US-Notenbankchef Ben Bernanke die Gefahr grosser Wirtschaftskrisen auf ewige Zeiten für gebannt erklärt. Er wurde drei Jahre später mit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise eines Besseren belehrt. Die behördlichen Versuche zur Feinsteuerung der Konjunktur sind seither nicht weniger geworden – möglicherweise mit der Folge, dass Unternehmen und Regierungen strukturell nötige Anpassungen auf die lange Bank schieben konnten. Das wäre mindestens eine Erklärung dafür, weshalb uns die Umschwünge der Konjunktur immer wieder auf dem falschen Fuss erwischen. (aargauerzeitung.ch)