Wirtschaft
Schweiz

Brunetti: Die Inflation in der Schweiz sinkt – trotzdem keine Entwarnung

Interview

Die Inflation sinkt – die Zinsen sollen aber trotzdem steigen: Brunetti erklärt, warum

05.07.2023, 06:0105.07.2023, 13:01
Lara Knuchel
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Anfang Woche erfuhren wir: Erstmals seit einer ungewöhnlich langen Zeit landet die monatliche Inflationsrate wieder unter zwei Prozent. Zwei Prozent – alles unter dieser Marke bedeutet für die Schweizerische Nationalbank (SNB) eigentlich Preisstabilität.

Sind wir damit über dem (Inflations-)Berg? Wir haben dazu den Volkswirtschaftsprofessor Aymo Brunetti gefragt. Die kurze Antwort: Es ist kompliziert.

Die längere (und bessere) findest du hier:

Professor Brunetti, die neusten Zahlen zur Inflation im Juni zeigen eine relativ deutliche Abnahme der Gesamtinflation, derzeit liegt sie bei 1,7 Prozent. Hat Sie das erstaunt?
Aymo Brunetti: Nein, überhaupt nicht. Man konnte davon ausgehen, dass die Inflation demnächst wieder unter die 2-Prozent-Marke fällt. Aber wir sollten diese Zahlen vom Juni jetzt nicht überbewerten, denn sie sind auch etwas verzerrt.

Verzerrt – inwiefern?
Der Rückgang geht vor allem auf die Reduktion der Energiepreise, insbesondere die Preise fossiler Energie, zurück. Man spricht hier von einem typischen Basiseffekt: Die Energiepreise waren im letzten Jahr – und damit vergleichen wir meistens – ausserordentlich hoch und haben sich jetzt etwas normalisiert. Diesen Effekt sehen wir zurzeit übrigens nicht nur in der Schweiz, sondern in den meisten Ländern.

Gesamtinflation vs. Kerninflation
Während die Gesamtinflation sämtliche Warenkategorien berücksichtigt, schliesst zweitere gewisse Produkte aus: Bei der Kerninflation werden Energie, Treibstoffe sowie «frische und saisonale Produkte», also bestimmte Nahrungsmittel, nicht mitgerechnet. Der Grund: Diese Preise sind oft anfällig für grössere Schwankungen und können die Preisentwicklung verzerren. Die Kerninflation ist damit die stabilere Rate. Sie lag im Juni bei 1,8 Prozent.

Nun fiel im Juni aber erstmals auch die Kerninflation – also die Teuerung, die stark schwankende Preise ausschliesst.
Dass diese rückläufig ist, ist auf jeden Fall ein erfreuliches Zeichen.

Aber?
Es ist nach wie vor so, dass die Inflation breit abgestützt ist, dass sie also die meisten Warengruppen betrifft, auch wenn man die dynamischen Preise, wie diejenigen der Energie, davon abzieht. Und man sieht, dass – zumindest im Monat Juni – die Teuerung vor allem aus der Schweiz kam.

Was bedeutet das konkret?
Das Bundesamt für Statistik unterscheidet in seinen Zahlen unter anderem zwischen Inlandgütern und Importgütern. Bei den Importgütern gingen die Preise gegenüber dem Vorjahr leicht zurück. Die Inlandgüter hingegen verzeichneten eine Preissteigerung von 2,3 Prozent – also mehr als die 2-Prozent-Marke.

Zur Person
Aymo Brunetti leitete zwischen 2003 und 2012 die Direktion für Wirtschaftspolitik im Staatssekretariat für Wirtschaft. Seither unterrichtet er als Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bern. Von 2012 bis 2019 war er geschäftsführender Direktor des Center for Regional Economic Development (CRED) der Universität Bern.
Aymo Brunetti, Volkswirtschaftsprofessor an der Universität Bern, befürchtet, dass der wirtschaftliche Einbruch wegen der Coronakrise wesentlich ausgeprägter sein wird als damals bei der Finanzkrise.  ...
Bild: KEYSTONE

Heisst das, wir können noch keine Entwarnung geben?
Es ist sicher ein sehr gutes Zeichen, dass wir jetzt im Bereich der Preisstabilität angekommen sind. Weil die Inflation aber so breit abgestützt ist, kann man noch nicht davon reden, dass sie jetzt verschwindet. Natürlich, die Schweiz hat nach wie vor deutlich tiefere Zahlen als das im Ausland der Fall ist. Aber wir müssen auch hier genauer hinschauen, denn wir haben gewisse Eigenheiten.

Die da wären?
Die Schweiz hat im internationalen Vergleich einen relativ hohen Anteil an administrierten Preisen – also Preise, die durch irgendeine Art staatliche Intervention beeinflusst werden. Diese werden nicht laufend angepasst, sondern nur ab und zu. Darunter fallen die angesprochenen Energiepreise, aber eben auch die Mieten. Und dort wissen wir bereits, dass es im Herbst eine Preissteigerung geben wird. Das BFS weist übrigens eine zweite Definition der Kerninflation aus, bei der aus der normalen Kerninflation noch die administrierten Preise herausgerechnet werden.

«Die Teuerung im Juni kam vor allem aus der Schweiz.»

Was zeigen diese Zahlen?
Während das erste Mass für die Kerninflation auf 1,8 Prozent gefallen ist, liegt die sogenannte «Kerninflation 2» immer noch bei deutlich über zwei Prozent. Das alles müssen wir berücksichtigen, wenn wir die Inflationszahlen interpretieren.

Viele Ökonominnen und Ökonomen gehen davon aus, dass die Inflation wieder anziehen könnte. Sehen Sie das auch so?
Ja. Es würde mich nicht überraschen, wenn das im Herbst der Fall wäre. Das wären nachgelagerte Preiserhöhungen, mit denen wir in so einer Situation rechnen müssen.

Was gehört zu nachgelagerten Preiserhöhungen?
Der Klassiker ist die Preis-Lohn-Spirale, bei der sich Preise und Löhne gegenseitig hochschaukeln. Bei den eher tiefen Inflationsraten in der Schweiz spielen diese aber zurzeit kaum eine allzu grosse Rolle.

Und was noch?
Auch die vorher angesprochenen administrierten Preise gehören dazu. Was hier besonders heraussticht, sind natürlich die Mieten, die aufgrund des gestiegenen Referenzzinssatzes angehoben werden. Diese Erhöhung wird einen Inflationsdruck nach oben entfalten.

Was auch immer eine Rolle spielt, sind unsere Erwartungen an die Teuerung. Das heisst, ist die erwartete Inflation hoch, verhalten sich die Menschen entsprechend und die Inflation wird auch in Zukunft hoch sein. Was weiss man über diese Erwartungen in der Schweiz?
Das Problem ist, dass wir dafür keine Daten haben. Meiner Meinung nach ist der beste Indikator dafür die Kerninflation. Sie zeigt, dass wir auf breiter Basis immer noch mit steigenden Preisen rechnen müssen. Aber wirklich problematisch wäre es, wenn die Inflationserwartungen generell stark ansteigen würden.

Wie meinen Sie das?
Eine klassische Lohn-Preis-Spirale existiert dann, wenn die Löhne sogar stärker steigen als die Preise. Die Leute wollen einerseits für die vergangene Inflation, aber auch für die von ihnen erwartete zukünftige Inflation kompensiert werden. Das sehen wir in der Schweiz nicht. Was nicht heisst, dass der Arbeitsmarkt nicht auch ein Inflationsrisiko birgt.

Weshalb?
Der Arbeitsmarkt ist derzeit überhitzt. Das sehen wir zum Beispiel daran, dass die Arbeitslosigkeit im Vergleich zur eher bescheidenen Wirtschaftsentwicklung extrem tief ist. Der Grund für die Überhitzung liegt aber in erster Linie bei der Demografie; die Babyboomer-Generationen gehen in Pension, was heute und in naher Zukunft eine Verknappung der Arbeitskräfte, ja einen eigentlichen Arbeitskräftemangel verursacht. Und in einem überhitzten Arbeitsmarkt ist es deutlich einfacher, Lohnforderungen durchzusetzen. Die Umstände für steigende Löhne sind in der Schweiz also durchaus gegeben.

«Müsste ich mich entscheiden, würde ich als SNB die Leitzinsen beim heutigen Wissensstand noch mindestens einmal erhöhen.»

Die Notenbanken haben ja ziemlich klargemacht, dass sie weiterhin auf der Bremse stehen werden, dass die Zinsen also weiter steigen könnten. Ist das angesichts der zurückgehenden Inflation noch glaubhaft?
Ich glaube, die Nationalbank wird sich erst entspannen, wenn die Teuerung langfristig und breit abgestützt unter den zwei Prozent zu liegen kommt. Substanzielle Teile der Preissteigerung liegen immer noch über den zwei Prozent – und andere, wie die Mieten, werden erst noch kommen. Müsste ich mich entscheiden, würde ich als SNB die Leitzinsen beim heutigen Wissensstand noch mindestens einmal erhöhen, auf jeden Fall aber noch länger nicht zurückfahren.

epa10705572 Swiss National Bank (SNB) Governing Board Chairman Thomas Jordan (L) gestures next to Member of the Governing Board Andrea Maechler during a media briefing at the SNB headquarters in Zuric ...
Die Währungshüter der Schweiz signalisierten zuletzt, dass die Zinserhöhungen wohl noch nicht vorüber sind. Im Bild: Thomas Jordan, SNB-Präsident. Bild: keystone

Welche Rolle spielt bei dieser Entscheidung das Ausland?
Eine grosse. Die EZB wird mit grosser Wahrscheinlichkeit noch einen oder zwei Schritte machen. Dann werden die Zinsen im Euroraum relativ hoch sein, was es attraktiver macht, in den Euroraum zu investieren – im Vergleich zur Schweiz.

Was würde das bedeuten?
Der Franken würde im Vergleich zum Euro wieder an Wert verlieren. Und das wiederum hätte eine inflatorische Wirkung. Die SNB tut also gut daran, den Unterschied der Zinsen nicht allzu gross werden zu lassen.

Warum ein starker Franken die Inflation dämpft
Wenn im Ausland die Preise stärker steigen als in der Schweiz, verteuern sich für uns auch die importierten Güter, die dieser Preissteigerung ebenfalls unterliegen. Das würde theoretisch auch in der Schweiz das Preisniveau ansteigen lassen. Ist der Franken aber relativ stark im Vergleich zum Euro, dann hat das einen dämpfenden Effekt auf die ausländischen Güter – sie werden für uns billiger, weil wir mit dem starken Franken zahlen (und dafür «mehr Euro kriegen»). Das heisst demnach, dass wir es bis zu einem gewissen Grad verhindern können, die Inflation zu importieren.

Die Schweiz profitiert derzeit von einem starken Franken ...
Der Franken ist gegenüber dem Euro heute nicht so stark, wie man es erwarten könnte, und er ist relativ stabil. Hier ist es ein Vorteil, dass in der Schweiz der Wechselkurs für die Inflationsentwicklung so wichtig ist: Die Inflation im Euroraum erlaubt es uns, dass wir den Franken noch weiter aufwerten lassen können – ohne, dass er überbewertet wäre. Das merkt man daran, dass wir zum Wechselkurs aktuell überhaupt keine Klagen aus der Exportindustrie oder dem Tourismus vernehmen.

Die Nationalbank lässt ja derzeit mit Devisenverkäufen den Franken sogar aktiv aufwerten.
Genau, das ist Teil ihrer Strategie: Neben den Zinsen kann man auch mit der Bilanz auf den Wechselkurs Einfluss nehmen. Und die SNB hat angefangen, ihre Bilanz zu reduzieren. Indem sie Devisen, also Assets in Fremdwährungen, verkauft und dafür Franken erhält, lässt sie unsere Währung knapper werden und dadurch verteuern. Es ist eine gute Gelegenheit für die Nationalbank, ihre nach wie vor stratosphärisch hohe Bilanz zu reduzieren.

«Ich finde die Diskussion um die ‹Gierflation› etwas übertrieben.»

Eine letzte Frage: Die EZB-Chefin Lagarde hat sich kürzlich ungewohnt hart über Unternehmen geäussert, die aufgrund ihrer «Gier» künstlich und unnötig zur Teuerung beitrugen. Gibt es eine solche «Gierflation» auch bei uns?
Ich finde diese Diskussion etwas übertrieben. Letztlich ist das eine andere Art zu sagen, dass es eine Lohn-Preis-Spirale gibt. Um keine Gewinnverluste zu machen, reagieren die Firmen auf steigende Löhne mit Preissteigerungen. Wäre eine «Gierflation» möglich, würde das bedeuten, dass extrem wenig Wettbewerb herrscht. Das würde aber Preisabsprachen zwischen den Unternehmen bedingen, was sofort die WEKO auf den Plan rufen würde.

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Die beliebtesten Kommentare
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Pachyderm
05.07.2023 06:51registriert Dezember 2015
Ich verstehe das nicht, wenn die noch kommende Inflation zu einem Grossteil auf steigenden Mieten basiert, macht es doch keinen Sinn die Zinsen anzuheben, da dies die Mieten weiter steigen statt sinken lässt?
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Ernst Ruckstuhl
05.07.2023 08:22registriert Juli 2023
Der Leitzins, der schlussendlich mit dem Zinssatz der Schweizerischen Nationalbank gekoppelt ist, verursacht die Teuerung.

Die Zinsen werden nicht an die Sparer weitergegeben, was bedeutet, dass du dein gespartes Geld nicht nur entwertet siehst, sondern auch noch höhere Mieten zahlen musst. Das ist echt ein großes Problem und es muss dringend etwas passieren!“
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Allkreis
05.07.2023 07:28registriert Januar 2020
Cooles Interview, merci. Brunetti zuzuhören ist mMn immer wieder sehr informativ und interessant. Einzig seine Aussage über die WEKO, welche bei fehlendem Wettbewerb sofort auf den Plan kommen soll, bezweifle ich - unsere Hochpreisinsel ist real. Ein Blick über die Grenze genügt: viel grösseres Angebot zu viel niedrigeren Preisen in fast allen Bereichen. Administrierte Preise und Subventionen sind besonders interessant: sie richten mMn eher Schaden an und sind bei EU Abkommen in Gefahr. Deshalb geht's diesbezüglich mMn auch nicht vorwärts - Klientelpolitik?
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