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Staatsschulden: Was du zur Staatsverschuldung noch nicht begriffen hast

«Die Schweiz hat ein Schuldenproblem» – aber anders, als du denkst

Die Nationalstaaten sind insgesamt so stark verschuldet wie noch nie. Doch wem schulden sie dieses Geld eigentlich? Kommt es jetzt zur Krise? Und wie sieht es in der Schweiz aus? watson beantwortet gemeinsam mit einem Ökonomen die grossen Schulden-Fragen.
04.08.2024, 05:3604.08.2024, 08:13
Lara Knuchel
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Ein guter Staat versorgt seine Bewohnerinnen und Bewohner mit Infrastruktur wie Schulen und Strassen und sorgt für deren Unterhalt. Hinzu kommen eine Armee, Ausgaben für Soziales sowie Subventionen und so fort. Meistens kann ein moderner Staat aber das Geld, das er dafür eingeplant hat, nicht alleine mit Steuern auftreiben. Deshalb muss er sich das Geld woanders holen.

Dass sich Staaten verschulden, ist in aller Regel normal – und auch kein Problem. Es gibt aber Fälle wie Griechenland (nach der Eurokrise) oder Argentinien (immer wieder), wo die Staatsverschuldung sowohl Ausdruck als auch Auslöser einer grossen Krise wird.

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2015: Protestierende vor dem griechischen Parlament. Bild: EPA/ANA-MPA

Gerade rückt die Staatsverschuldung global wieder in den Fokus. Nach der Corona-Pandemie sind die Nationalstaaten so stark verschuldet wie noch nie. Zeit, sich das Thema genauer anzuschauen – und mit dem ein oder anderen Mythos aufzuräumen. Wir haben unsere drängendsten Fragen dem Genfer Wirtschaftsprofessor Cédric Tille gestellt.

Warum erreichte die globale Verschuldung einen neuen Rekord?

Das hat verschiedene Gründe. Zum einen waren da die Finanz- und die Eurokrise ab 2008: Um die Wirtschaft zu unterstützen, haben viele Staaten eine sogenannt expansive Fiskalpolitik betrieben – also Steuersenkungen und/oder höhere Staatsausgaben, welche die Wirtschaft ankurbeln sollen. Das betraf vor allem die Industrieländer.

Danach kam die Covid-Krise, in welcher der Staat vielerorts sowohl Private als auch Unternehmen finanziell unterstützte – auch solche, die dieses Geld eigentlich nicht brauchten. Um dies zu bezahlen, mussten sich viele Staaten verschulden. Das betraf nicht nur, aber diesmal insbesondere die Schwellenländer. Wirtschaftsprofessor Cédric Tille sagt: «Viele Schwellenländer begannen bereits nach 2008, nachdem viele von ihnen sehr diszipliniert gewesen waren, sich immer stärker zu verschulden – wegen der sehr tiefen Zinsen war das auch günstig.»

Brutto- und Nettoverschuldung
Mit dem Begriff Staatsverschuldung sind hier (wie üblicherweise) die Bruttoschulden gemeint. Hierbei wird nicht berücksichtigt, dass der Staat auch über Vermögenswerte (Infrastruktur, Immobilien usw.) verfügt, die er zur Schuldenbegleichung notfalls veräussern könnte. Die Nettoschulden eines Staates entsprechen den Bruttoschulden abzüglich dieser Vermögenswerte. Die Nettoverschuldung eines Staates wäre in Bezug auf die Kreditwürdigkeit eines Staates zwar aussagekräftiger als die Bruttoverschuldung. Es existieren hierzu aber praktisch keine international vergleichbaren Zahlen, da die Methoden zur Bewertung der Vermögenswerte sehr unterschiedlich sein können.

Die Grafik zeigt: In vielen Industrieländern ist die Staatsverschuldung seit der Corona-Pandemie zwar relativ stabil geblieben – dies aber auf einem hohen Niveau. Vor allem die Finanzkrise läutete in den meisten Ländern ein Zeitalter wachsender Schuldenquoten ein. Global – und in absoluten Zahlen – gesehen hat sich die Staatsverschuldung seit 2007 verdreifacht. Sie liegt mittlerweile bei etwas unter 100 Billionen US-Dollar (als Zahl: 100'000'000'000'000 oder 1014).

Es ist aber wichtig zu betonen: Viel aussagekräftiger als die absoluten Zahlen ist die Verschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung – denn nicht nur die Staatsschulden, auch das globale BIP hat in diesem Zeitraum massiv zugenommen. «Das sollte man immer im Kopf behalten, denn: Eine Billion im Jahr 2007 war nicht das gleiche wie eine Billion heute», erklärt Professor Tille.

Also: Im Verhältnis zur globalen Wirtschaftsleistung hat die Staatsverschuldung insbesondere im Zuge der Pandemie stark zugenommen. Seither hat sie wieder leicht abgenommen, erreichte aber nie das Vor-Corona-Niveau. Und: Seit 2022 ist die Schuldenquote wieder leicht steigend.

Wem schulden die Länder eigentlich dieses Geld?

Die Schulden werden am Finanzmarkt gehandelt. Dort gibt es verschiedene Investoren: Das können Pensionskassen sein, Versicherungen, Banken, ausländische Notenbanken, aber auch Private. Die Investoren kaufen dabei dem Staat Wertpapiere ab, meistens sind es Obligationen oder Anleihen mit einer festen Laufzeit und einem Zins.

«Wichtig ist: Niemand ist gezwungen, diese Schuldscheine zu kaufen. Investoren tun dies aber, da diese Papiere meist eine sichere Investition sind, die regelmässig Zinsen abwirft», so Tille. Gerade wenn die Zinsen tief sind und das Aufbewahren von Geld bei einer Bank kaum Belohnung verspricht, kann eine Staatsanleihe eine gute Alternative sein. «Weil sie so sicher sind, gibt eine solche ‹Lagerung› des Geldes den Investoren einen Peace of Mind», sagt Tille, eine innere Ruhe. «Deshalb wird die Nachfrage nach solchen Schuldscheinen immer vorhanden sein – auch wenn auf Staatsanleihen ein vergleichsweise geringer Zins abfällt.»

Zur Person
Cédric Tille ist Professor für Wirtschaftswissenschaften am Graduate Institute of International and Development Studies (IHEID) in Genf. Zuvor arbeitete er als Ökonom in der Forschungsabteilung der Federal Reserve Bank of New York. Bis 2023 war Tille zudem Mitglied des Bankrats der Schweizerischen Nationalbank (SNB). In seiner Forschung befasst er sich mit der Makroökonomie in der offenen Wirtschaft, insbesondere mit der Geld- und Währungspolitik sowie mit internationalen Kapitalströmen.
Cedric Tille, Professor International Economics, Geneva Graduate Institute
Bild: zvg

Warum sind solche Wertpapiere denn so sicher? «Überlegen Sie mal, was die Alternativen sind. Sie könnten in ein privates Unternehmen investieren; nehmen wir ein sicheres, grosses wie Nestlé. Aber auch das kann theoretisch Konkurs gehen.» Nestlé könne dann zwar die Preise erhöhen, aber die Konsumenten haben noch immer die Wahl, Nestlé-Produkte zu kaufen oder nicht. «Bei einem Staat ist das anders: Zum Begleichen seiner Schulden kann er einfach die Steuern erhöhen. Und die Steuerzahler müssen immer zahlen.»

Was sind die Gefahren einer hohen Staatsverschuldung?

Vorneweg: Was genau als «hoch» zu betrachten ist, kann niemand genau sagen. Es wird für einen Staat aber dann problematisch, wenn die Schuldenquote, also die Staatsschulden im Vergleich zum BIP, zu- und nicht wieder abnimmt – vor allem dann, wenn das in einem kurzen Zeitraum geschieht.

Warum? Ein Staat muss auslaufende Schulden entweder zurückzahlen – oder sie zu einem neuen Zinssatz ersetzen. Man nennt das auch ein Roll-Over: Neue Anleihen werden aufgenommen, um alte zurückzuzahlen. In der Regel ist das kein Problem, solange sich nichts am Vertrauen ändert, das die Finanzmärkte an die Solvenz eines Staates haben. Gibt es aber wirtschaftliche oder politische Turbulenzen, könnte es sein, dass die Investoren für neue Schulden plötzlich höhere Prämien verlangen – oder überhaupt kein Geld mehr ausleihen wollen.

Die Folge: Die Zinsen auf neuen Schulden schiessen in die Höhe, was den Staatshaushalt zusätzlich belastet. Richtig brenzlig wird es dann, wenn zusätzlich eine Wirtschaftskrise herrscht – und die Zinsen auf den Schulden höher sind als das BIP-Wachstum.

Als letzte Konsequenz muss der verschuldete Staat Bankrott erklären: der Zeitpunkt, an dem er schlicht seinen Verbindlichkeiten nicht mehr oder nur unvollständig nachkommen kann. Die Folgen davon sind vielfältig: Unmittelbar verringert sich durch Schuldenschnitte zwar die Schuldenlast, der Staat muss aber viele Ausgaben sistieren, kann zum Beispiel Löhne nicht zahlen. Zudem kann das eine Bankenkrise sowie die massive Abwertung einer Währung auslösen.

Selten ist eine Staatspleite übrigens nicht: Fast alle Länder waren seit ihrem Bestehen schon einmal bankrott, viele sogar mehrmals. In der Regel waren, zum Beispiel in Deutschland 1929, 1932 oder 1953, Kriege schuld.

Die Griechenland-Krise
In manchen Fällen braucht es aber auch keine Kriege. Geht es um Staatspleiten, dann kommt den meisten wohl Griechenland nach der Eurokrise in den Sinn. Die Griechenland-Krise vollumfänglich zu erklären, ist komplex. Die Gründe sind aber grob in äussere und innere Ursachen zu gliedern: Einerseits war damals die gesamte Eurozone in einer Krise, Griechenland als schwächstes Glied traf es daher am härtesten. Andererseits gab es im Land selbst systemische Mängel wie Korruption und Misswirtschaft sowie einen aufgeblähten Staatsapparat.

Seit seinem Beitritt zur Eurozone 2001 lebte Griechenland über seinen Verhältnissen: Es konsumierte mehr, als es einnahm, zudem wuchs das Handelsbilanzdefizit immer weiter an. Gleichzeitig nahm Griechenland von Jahr zu Jahr mehr Schulden auf, im Zuge der Finanz- und Eurokrise stieg der Schuldenberg sprunghaft von etwas über 100 Prozent auf 180 Prozent (2014) an. Mit den hohen Schulden stieg auch die Zinslast, was wiederum ein noch grösseres Loch in den Staatshaushalt riss. Weil Griechenland den Euro übernahm, fiel die Möglichkeit zur Währungsabwertung – die zum Beispiel eine Anregung der Exporte zur Folge hätte – weg.

Eigentlich kam die Krise mit Ankündigung – nur spiegelten das einige wichtige Kennzahlen lange nicht wider: 2009 mussten die Daten zur Verschuldung massiv nach oben korrigiert werden (Grund: methodische Mängel des Statistischen Amts sowie mögliche politische Einflussnahme). Unter anderem deshalb lag die Kreditwürdigkeit Griechenlands lange Zeit deutlich zu hoch, weshalb das Land lange (viel zu) günstig Schulden anhäufen konnte.

Mithilfe des IWF und der EU musste Griechenland immer wieder gerettet werden. Da man einen Dominoeffekt befürchtete – viele Banken besassen unter anderem griechische Staatsanleihen – liess man das Land nie wirklich bankrottgehen. Bis heute kämpft der Staat am Mittelmeer mit seiner enormen Schuldenlast.

Rekordverschuldung – knallt es jetzt bald?

Seit der Coronakrise haben insbesondere grosse Industrienationen wie die USA, Frankreich oder Italien historisch hohe Staatsschulden angehäuft. Es mehren sich deshalb die Stimmen, die vor einer Staatsschuldenkrise warnen. Wie hoch ist dieses Risiko wirklich?

«Ich bin nicht der Meinung, dass Länder wie die USA oder Frankreich ein Schuldenkrise-Risiko haben», sagt Cédric Tille. Aber: «Sie haben ganz klar ein materielles Problem, und es besteht ein Handlungsbedarf.» Das heisst, die Schuldenquote sollte sich nicht noch weiter vergrössern – um zu verhindern, dass die Bedienung dieser Schulden den Staat noch mehr kostet.

Ein Beispiel: In den USA fliessen etwa 20 Prozent der gesamten Staatsausgaben in die Bedienung der Schulden. Das sind deutlich mehr als die Ausgaben für staatliche Investitionen. Steigen diese Ausgaben, dann schränkt das die Regierung immer mehr darin ein, Geld für seine Bürgerinnen und Bürger auszugeben. Das Problem verschärft sich in Zeiten, in denen die Zinsen steigen.

Ein weiteres Beispiel: 2021 wandte Sri Lanka drei Viertel seiner Staatseinnahmen zur Bedienung seiner Staatsschulden auf. Weil das Geld für den Import fehlte, gab es auf der Insel für kurze Zeit keinen Treibstoff mehr. Zuvor hatte Sri Lanka jahrelang riesige Defizite geschrieben, und die politische Lage war zunehmend instabil. 2022 musste das Land den Staatsbankrott erklären und den Internationalen Währungsfonds (IMF) offiziell um Finanzhilfe bitten.

epa10018442 Auto rickshaws queue to fetch fuel from a gas station amid a fuel shortage in Colombo, Sri Lanka, 17 June 2022. The Sri Lankan government introduce a two-week work from home program for th ...
2022: Auto-Rikschas stehen in Sri Lankas Hauptstadt Colombo in einer Warteschlange, um den knappen Treibstoff bei einer Tankstelle zu holen.Bild: keystone

Eine solche Krise ist faktisch zwar nie und nirgends auszuschliessen, in den politisch stabilen Industrienationen aber nach wie vor extrem unwahrscheinlich. Tille sagt: «Eine Krise würde aus meiner Sicht nur infrage kommen, falls nochmal ein so einschneidendes Ereignis wie Corona stattfindet, das den Staaten nur einen geringen Ausgaben-Spielraum erlauben würde.»

Um die Ausgaben in Schach zu halten und die Schuldenquote im besten Fall zu reduzieren, gibt es kurzfristig zwei Möglichkeiten: weniger Staatsausgaben oder mehr Einnahmen. «Die USA haben relativ niedrige Steuern und könnten eine Lösung in einer Steuererhöhung finden», sagt Tille. «Europäische Länder können das weniger gut, da sie bereits eine relativ hohe Steuerlast haben. Hier wäre es besser, die Staatsausgaben unter Kontrolle zu bringen.» Langfristig hingegen wäre ein hohes Wirtschaftswachstum die praktischste Lösung.

Was bedeutet eine hohe Verschuldung für uns «normale» Menschen?

Auch hier kommt es darauf an, wie hoch das Land verschuldet ist. Ist die Verschuldung hoch, dann muss das Land in erster Linie regelmässig hohe Beträge für die Zinsen darauf aufwenden. Falls die Zinsen steigen, dann kann das dazu führen, dass der Staat andere Aufgaben – wie zum Beispiel Bildung oder Infrastruktur – nicht im gleichen Masse wahrnehmen kann. Zudem kann der Staat auch nicht mehr gleich in die ansässigen Unternehmen investieren, was wiederum die Wirtschaft zum Erlahmen bringen kann. Das ist besonders in eher geschlossenen Volkswirtschaften ein Problem.

Ökonom Tille ergänzt: «Wir müssen uns aber auch anschauen, wer genau die Gläubiger sind. Japan zum Beispiel hat eine enorm hohe Verschuldung. Der Staat ist aber vor allem bei japanischen Privaten – also bei seinem eigenen Volk – verschuldet.»

Die Steuerzahlerin ist also gleichzeitig Investorin. Erhöht der japanische Staat seine Steuern, dann geht ein Teil dieser Einnahmen quasi direkt zurück, und zwar als Zins an die Steuerzahler. «In diesem Fall ist die hohe Verschuldung weniger ein Problem.»

Tille ist es aber wichtig, zu betonen, dass Schulden nicht nur Nachteile haben – manchmal sogar im Gegenteil.

Wieso sind Schulden nicht nur schlecht?

Mit dem Herausgeben von Schuldscheinen am globalen Finanzmarkt kann ein Staat sich finanzielle Mittel beschaffen. Damit kann er in Infrastruktur oder Bildung investieren – gerade in Zeiten, in denen die Steuereinnahmen alleine dafür nicht ausreichen würden.

Trotzdem gilt das Thema Staatsverschuldung – gerade in der Schweiz – als sehr negativ konnotiert: Schulden bedeuten Zinsen, eine Belastung für kommende Generationen. «Aber Schuld ist nicht gleich Schuld», so Cédric Tille. Man dürfe nicht vergessen, dass der Staat kein Haushalt ist. «Als Haushalt muss ich aufpassen – irgendwann muss ich meine Schulden zurückzahlen.» Personen werden im Leben einen Zeitpunkt erreichen, an dem sie nicht mehr arbeiten und von ihren Ersparnissen leben müssen. Sie haben so gesehen einen «Endpunkt».

Ein Staat hat das nicht: «Politikerinnen und Politiker kommen und gehen, aber der Staat bleibt. Er stirbt nicht.» Damit hat er einen endlosen Zeithorizont und muss so auch nie alle Schulden zurückgezahlt haben. Das gilt übrigens auch für Unternehmen. «Und ich kenne kein Grossunternehmen, das keine Schulden – also keine Passiven – hat.» Es ist, wie in einem privaten Unternehmen, vielmehr eine Frage des Masses.

Warum hat es noch nicht «geklöpft»?

Eine Frage des Masses – kehren wir damit noch einmal zur heutigen Situation zurück. Professoren wie Cédric Tille, aber auch die Experten beispielsweise der «Financial Times» sehen zumindest für Industriestaaten keinen Grund, warum es zur Krise kommen sollte. Dies, obwohl die Zinsen seit der Pandemie deutlich und relativ rasch gehoben wurden.

«Es sind vor allem die kurzfristigen Zinsen gestiegen», erklärt Tille. Die langfristigen – also zum Beispiel diejenigen auf Staatsanleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren – sind weniger stark gestiegen. «Wichtig im Kopf zu behalten: Es sind vor allem die nominalen Zinsen gestiegen. Die realen Zinsen, die für die Inflation korrigieren, sind hingegen leichter gestiegen. Während Covid waren diese Zinsen abnormal tief und es war eine Steigerung zu erwarten.» Der Ökonom glaubt, dass die heutigen Zinsen für grosse Schuldner wie die USA ertragbar bleiben.

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Staatsanleihen werden regelmässig von den einzelnen Staaten zu einem bestimmten Preis ausgegeben. Danach können sie aber zu flexiblen Preisen weiter gehandelt werden.Bild: imago images

Für die USA kommt hinzu, dass der Finanzmarkt das Risiko eines Zahlungsausfalls noch immer als extrem gering bewertet. Das hat zur Folge, dass das Land im Vergleich zur sehr hohen Schuldenquote noch immer kaum Risikoprämien zahlen muss. «Schaut man den Zins an, dann sieht man: Der Markt ist nicht so besorgt. Das Vertrauen, dass die USA die Schulden zurückzahlen werden, ist nach wie vor hoch.»

Tille erklärt das unter anderem damit, dass die USA auf den Finanzmärkten so präsent und dominant sind, dass die Nachfrage nach US-Staatsanleihen fast nicht abnehmen kann: Praktisch jede Bank, jedes Portfolio in praktisch jedem Land sei mit US-Staatsanleihen verbandelt.

«Wenn die Investoren die USA umschiffen wollen, ist das fast unmöglich. Wo sollen sie hingehen?»

Fazit: Solange die Märkte darauf vertrauen, dass ein Staat keinen Default macht, also keine Zahlungen versäumt, ist das kein Problem. «Die grösste Gefahr ist, dass die Märkte dieses Vertrauen verlieren. Diese Gefahr ist derzeit in Schwellenländern viel grösser», meint Tille und verweist auf den IWF, der in mehreren Berichten mit Sorge auf die teils hohe Verschuldung von solchen Ländern blickt.

«Dort kommt es vor, dass die Staaten sich in guten Zeiten eher stark verschulden, weil die Konditionen günstig sind, da das Vertrauen hoch ist.» Aber in politisch instabilen Ländern kann dieses auch schnell wieder schwinden. Grosse Investoren ziehen dann ihr Geld in kurzer Zeit wieder ab. Das führt zu einer sogenannten Balance-of-Payment-Krise: «Über eine lange Zeit kommt viel Geld ins Land – und plötzlich nicht mehr.» Die Folge: Das Land ist nicht mehr in der Lage, wichtige Importe zu bezahlen oder seine Auslandsschulden zu begleichen.

Wie sieht es mit der Verschuldung in der Schweiz aus?

Kaum zu glauben, aber wahr: Wie hoch die Schuldenquote genau ist, ist gar nicht so einfach zu definieren und hängt beträchtlich von der Messmethode ab. Gemäss IWF-Messmethode beträgt die Brutto-Staatsschuldenquote 37 Prozent. Damit ist der Gesamtstaat gemeint, also Bund, Kantone und Gemeinden. Je nach Methode sind es aber bis zu 10 Prozentpunkte weniger. In jedem Fall gilt: Die Schweiz hat eine der tiefsten Staatsschuldenquoten der Welt. Das ist primär der 2003 eingeführten Schuldenbremse zu verdanken.

Die Schuldenbremse in der Schweiz
Seit 2003 steht die Schuldenbremse in der Verfassung: Artikel 126 hält kurz und knapp fest: «Der Bund hält seine Ausgaben und Einnahmen auf Dauer im Gleichgewicht.» Die faktische Umsetzung dieses Artikels besagt, dass die Staatsausgaben nicht höher sein dürfen als die Einnahmen multipliziert mit einem gewissen Faktor. Dieser Faktor wird anhand der Konjunkturlage berechnet: Ist die Konjunktur vergleichsweise gut, ist er kleiner als eins, wodurch der Zwang entsteht, Überschüsse zu erzielen. Während einer Rezession hingegen ist dieser Faktor grösser als eins – Defizite sind erlaubt.

Auch die Bedienung der Schulden kostet die Schweiz vergleichsweise sehr wenig: 2023 zahlten die OECD-Länder im Schnitt rund 4 Prozent Zins auf ihren Schulden. Auf Schweizer Schuldscheinen lastet teilweise ein Zins von gerade mal 0,5 Prozent – in einem Land, in dem die langfristige Inflation etwa 1 Prozent beträgt. «Das sagt nichts anderes, als dass die Investoren am Markt dieses Geld der Schweiz sehr, sehr gerne geben», sagt Cédric Tille.

Er führt fort: «Ich sage immer, die Schweiz hat ein Schuldenproblem – sie macht zu wenig Schulden!» Tatsächlich fiel der Genfer Ökonom in der Vergangenheit mit seiner Haltung auf. Er finde die Schuldenbremse grossartig, praktisch werde sie aber zu restriktiv umgesetzt. Gegenüber der NZZ sagte Tille: Führe der Bund seine bisherige Praxis fort, so werde die Schuldenquote weiter abnehmen und immer näher gegen null tendieren. «Einen vollständigen Schuldenabbau erachte ich aber nicht als sinnvoll. Ich kenne kein ökonomisches Modell, welches so etwas propagiert.» Was ist der Grund? «Die zurückgezahlten Kredite könnten womöglich mehr Nutzen stiften, wenn sie für Investitionen oder zur Senkung der Steuern verwendet werden.»

In den Augen vieler ist die Schuldenbremse mitunter ein Grund, weshalb in Deutschland – das nach Schweizer Vorbild ebenfalls eine eingeführt hat – die Investitionen in den letzten Jahren zu gering ausfielen. Bei unseren nördlichen Nachbarn wird die Auslegung der Schuldenbremse darum gerade heftig diskutiert.

Immobilien: Unklar: wie stabil die Immobilien hierzulande finanziert sind, ist schwer zu sagen
Die Schweiz, ein Land von Häuschenbesitzern. Bild: Annick Ramp/ch media

Dass die Schweiz kaum verschuldet ist, kann indes nicht behauptet werden. So ist die private Verschuldung hierzulande vergleichsweise sehr hoch. Der Grund sind die vielen Hypothekarschulden, welche die Schweizerinnen und Schweizer aufnehmen, um sich eine Immobilie kaufen zu können. «Das wird steuerlich begünstigt», erklärt Tille. Aber auch in der hohen privaten Verschuldung sieht er keine Probleme – solange die Immobilienpreise nicht markant sinken. «Aber das ist in der Schweiz extrem unwahrscheinlich.»

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Die beliebtesten Kommentare
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Lowend
04.08.2024 08:09registriert Februar 2014
Was mir bei der Diskussion zu Staatsschulden und zur Schuldenbremse immer fehlt, ist die Unterteilung, wozu die Schulden gemacht werden. Für mich gilt da im Grunde das selbe, wie für jede Privatperson; Schulden machen, nur um sich den Konsum zu finanzieren sollten tunlichst vermieden werden, aber Schulden, um in die Zukunft zu investieren, wie zum Beispiel um sich Fortzubilden, oder Gerätschaften zu kaufen, mit denen man den Job besser ausführen kann und die so wieder Gewinn abwerfen, kann und muss man manchmal einfach riskieren, damit das eigene Geschäft und damit auch das Leben weiter läuft.
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Overton Window
04.08.2024 08:35registriert August 2022
Wenn der Staat sich verschuldet um in die Zukunft zu investieren und das Geld somit wieder zurückfliesst, sind Schulden schon ok, wenn der Staat sich aber verschuldet um die Steuern für Reiche und Vermögende zu senken, weniger.
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Knut Knallmann
04.08.2024 08:10registriert Oktober 2015
Schulden sind sinnvoll zur Überbrückung von Krisen und für nachhaltige Investionen zum Beispiel in Infrastruktur. Die teils systematischen und massiven Defizite, welche viele Staaten seit Jahrzehnten anhäufen ohne dass sie effektiv in das Land investieren, sind jedoch alles andere als nachhaltig und langfristig sinnvoll…
10210
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