Die sagenhafte Story um den Aktienkurs der Videospiele-Kette GameStop verkommt immer mehr zu einem Drama ohne Sieger. Kleinanleger fahren Verluste ein. Der Erfolg des Forums WallStreetBets zeigt sein hässliches Gesicht. Die wichtigsten Mitglieder wurden gestern in einer Nacht-und-Nebelaktion aus dem Forum ausgeschlossen. Sie sprachen sich gegen eine Kommerzialisierung aus. Aber alles der Reihe nach.
Wer die Story bereits im Detail kennt, kann sich auf den fünften Akt beschränken, wo die jüngsten Entwicklungen beschrieben werden.
Im kalifornischen Menlo Park im Silicon Valley, wo Google gegründet wurde und heute Facebook beheimatet ist, wollen 2013 Vladimir Tenev und Baiju Bhatt «die Finanzmärkte demokratisieren». Dafür entwickeln sie eine Trading-App und nennen sie RobinHood – in Anlehnung an den berühmten Dieb, der von den Reichen stahl, um es den Armen zu geben. Mit RobinHood können Studentinnen, Praktikantinnen, Rentner – jeder, der ein Smartphone bedienen kann – an den weltweiten Finanzspielchen teilnehmen. Die Gratis-App schlägt ein wie eine Bombe. Innert Kürze steigt die Benutzerzahl in die Millionen.
Eine Heimat finden die neuen Privatspekulanten im Forum r/Wallstreetbets (WSB) auf Reddit.com. Es war ein Jahr zuvor von Jaime Rogozinski mit dem Vorsatz ins Leben gerufen worden, Börsengewinne und insbesondere auch Verluste zeitgemäss mit Memes und einer gehörigen Portion Selbstironie zu kommunizieren: «Loss Porn» – «Verlust-Pornographie».
Das Forum wächst langsam aber stetig und entwickelt eine eigene, mitunter raue Tonalität. Yolo-Kultur nennt sich das: Man lebt nur einmal. Die Forums-Teilnehmer nennen sich «Degenerierte», riskieren vor allem mit Optionen unverhältnismässig viel, und das mit stolz geschwellter Brust. Es ist ein bunt gemischter Haufen. Arbeitslose Jugendliche mit Portfolios von ein paar hundert Dollar treffen sich hier mit Privatinvestoren, welche mehrere Millionen verwalten. Sie haben einen gemeinsamen Feind: die feinen Pinkel von der Wallstreet in New York.
Doch Gründer Jamie, bekannt unter dem Namen u/jartek, ist der Erfolg des Forums nicht genug. Er will Trading zu einer Art e-Sport machen und damit Geld verdienen. Genauso wie mit Tradingkursen. Beides promotet er aggressiv. Den anderen Moderatoren auf WallStreetBets stösst dieses Benehmen sauer auf. Sie entmachten Rogozinski und werfen ihn aus dem Forum. Versuche seinerseits, sich unter einem anderen Pseudonym wieder ins Forum einzuschleichen, scheitern. Derweil investiert der Moderator u/zjz viel Zeit, das Forum zu managen – dazu gehört auch die Programmierung unzähliger Bots. Er gilt nun als der neue Mister WallStreetBets.
Mitte 2019 wird bekannt, dass der Hedge Fonds Melvin Capital den Aktienkurs von GameStop shortet. GameStop ist eine Ladenkette, welche sich auf den Verkauf von Videospielen spezialisiert hat. Sie scheint dem Untergang geweiht, denn Videospiele werden nicht mehr im Laden gekauft, sondern im Netz heruntergeladen. GameStop muss über 300 Filialen schliessen, eine Vorstellung, wie das Unternehmen die Umlagerung ins Internet schafft, scheint es nicht zu geben.
Der Kurs einer GameStop-Aktie sackt auf unter drei Dollar.
Die Position von Melvin Capital ist enorm. Doch der Hedge Fonds ist damit nicht alleine. Sämtliche Shorts (nicht nur die von Melvin) umfassen mehr Wertschriften (140%) als sich von GameStop überhaupt auf dem Markt befinden. Später wird dies Fragen aufwerfen – und damit begründet, dass nicht sämtliche Aktien im Umlauf sind.
Wenig später beginnt der 34-jährige Keith Patrick Gill damit, Kaufoptionen für Gamestop-Aktien anzuhäufen. Er wettet damit auf einen Kursanstieg der Aktie.
Kult-Investor Ryan Cohen schreibt der Führung von GameStop einen gesalzenen offenen Brief. Diese reagiert. Cohen und zwei Kollegen werden als Berater hinzugezogen. Plötzlich ist da wieder Hoffnung. Der Aktienkurs steigt.
Im September 2019 postet Keith Patrick Gill unter dem Pseudonym u/DeepFuckingValue seine Buchgewinne auf r/Wallstreetbets. Er bezeichnet sie als «Tschernobyl-Erfahrung». Die Gewinne sind eindrücklich. Mit einem Einsatz von 53'566,04 Dollar hat er 46'433 Dollar Buchgewinn gemacht. Ein User kommentiert: «Verdammt. Du hast Eier aus Stahl. Viel Glück damit.» Andere glauben weniger an einen nachhaltigen Erfolg.
Doch Gill gibt nicht auf. Er postet weiter. Als die Q3-Zahlen eintreffen, muss er an einem Tag 50'000 Dollar abschreiben. Und wie reagiert er? Er kauft weitere Optionen. Die Zahlen bleiben tiefrot. Das ändert sich im August 2020. Gill macht über 300'000 Dollar Gewinn. Das wiederholt sich. Im September 2020, ein Jahr nach seinem ersten Forums-Post, belaufen sich die Buchgewinne auf knapp eine Million Dollar. Doch Gill denkt nicht ans Verkaufen. Immer mehr Forumsmitglieder tun es ihm gleich.
Gleichzeitig wird das Narrativ der hässlichen Hedge Fonds geschürt. Viele Privatanleger verspüren für die Videospiele-Ladenkette sentimentale Gefühle, verbrachten sie doch ihre Kindheit damit, sich dort die Nasen an den Schaufenstern plattzudrücken. Die Lawine rollt endgültig, der Druck auf Melvin Capitals nimmt zu.
Der Druck auf die Shorter wird zu gross. Sie müssen nach eigenen Angaben ihre Positionen auflösen, was den Kurs explodieren lässt. Short Squeeze nennt sich dieser Effekt. 300 Dollar kostet nun das Wertpapier der fast schon totgeglaubten Ladenkette. Das Portfolio von r/DeepFuckingValue hat kurzfristig einen Wert von ungefähr 50 Millionen Dollar.
Melvin Capital hingegen geht es weniger gut. Das «Wall Street Journal» berichtet, dass der Hedge Fonds eine Finanzspritze von 2,75 Milliarden Dollar benötige. Ein anderer Hedge Fonds, Citadel, trägt zu einem grossen Teil zur Rettung bei. Gestandene Millionäre wettern in amerikanischen Medien über die GameStop-Vorfälle. Sie werfen den Kleinanlegern Marktmanipulation vor.
Die Häme ist riesig und auf WallStreetBets ist die Hölle los. Die Privatanleger feiern ihren Sieg über das Establishment. Dass mit BlackRock ausgerechnet eine verhasste Investmentgesellschaft auch über 2 Milliarden Gewinn verbuchen konnte, wird im Freudentaumel unter den Teppich gekehrt. Elon Musk und Mark Cuban verbrüdern sich mit den WSB-Investmentpunks. Ihre Botschaften erreichen Millionen. Viele von ihnen landen bei WallStreetbets, das nun acht Millionen Mitglieder zählt und als neue Macht an den Märkten betrachtet wird.
Der Medienhype ist enorm. Gründer Jamie taucht aus der Versenkung auf und begibt sich auf einen Medienmarathon. Viele TV-Stationen sind froh, endlich ein Gesicht für das schwer fassbare Phänomen WSB vor der Kamera zu haben. Dass er im Forum schon länger keine tragende Rolle mehr spielt, wird ignoriert.
Dort wirbeln die neuen Usermassen dermassen viel Staub auf, dass der Durchblick nicht mehr möglich ist. Verdachtsäusserungen, dass sich nun organisierte Gruppen und Interessenvertreter die Masse zu Nutzen machen wollen, werden niedergeschrien. Durchhalteparolen grassieren. Der Short Squeeze habe noch nicht stattgefunden, errechnen Forumsmitglieder anhand der Volumen. Der Höhenflug der Aktie habe erst gerade begonnen.
Immer neue Börsen-Trends werden ausgerufen. Nach Nokia, BlackBerry und AMC taucht plötzlich das Gerücht auf, Silber sei das neue GameStop. Dem wird aber auch heftig widersprochen. Hedge Fonds hätten das Gerücht initiiert. Erste Risse im Fundament des Forums werden sichtbar. Es herrscht Chaos.
Als einzige Konstante etabliert sich u/DeepFuckingValue. Stoisch postet er seine Verluste und Gewinne. Das Forum bewundert seine Hartnäckigkeit. «Diamantene Hände», nennen sie es.
Die Handelsbörsen verbuchen Rekordvolumen. Noch nie wurde so viel an einem Tag investiert. Doch dann wird es zu viel. Am 28. Januar beschränkt RobinHood die Tradingmöglichkeit von 13 Aktien – darunter auch die von GameStop. Der Kauf von Aktien und Call-Optionen sind nicht mehr möglich – nur noch der Verkauf ist erlaubt.
Die WallStreetBetter sind ausser sich. Ausgerechnet ihr Liebkind hat die Kleinanleger verraten. Der Wikipediaeintrag von Robinhood wird kurzzeitig manipuliert, die App in den Stores mit 1-Stern-Bewertungen bombardiert. Die Politik schaltet sich ein. Die Kongressabgeordnete Rashida Tlaib (Demokratin aus Michigan) fordert auf Twitter eine Anhörung durch das United States House Committee on Financial Services. Sie vermutet Marktmanipulation.
Es wird bekannt, dass Robinhood die Abwicklung von über 50 Prozent aller Trades an Melvin-Retter Citadel verkauft – der dadurch nicht nur einen Marktvorteil hat, sondern auch viel Macht. Es wird spekuliert, dass Citadel hinter dem Abwürgen des GameStop-Handels steht.
Der Preis von GameStop taucht. u/DeepFuckingValue muss an einem Tag fast 15 Millionen abschreiben. Vielen Hypegenossen geht es in weniger grossem Ausmass ähnlich. Doch u/DeepFuckingValue behält seine Positionen und steigt damit endgültig zum goldenen Ritter der Szene auf. Doch dann passiert es: Die Agentur Reuters deckt seinen wahren Namen auf.
Enttarnt gibt Keith Patrick Gill alias r/DeepFuckingValue ein Interview im Wall Street Journal. Er outet sich als ehemaligen Angestellten des Versicherungsriesen MassMutual. Obwohl er in seinem Keller handelt, ist er nicht irgend ein Nobody, sondern hält diverse Trading-Lizenzen. Ein letztes Mal noch postet er seine (Buch)Gewinne auf Reddit. Er besitzt im Moment ein Vermögen von über 22 Millionen Dollar. Acht davon noch immer in GameStop-Optionen und -Aktien. Danach taucht er unter. Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen Marktmanipulation. Zusammen mit RobinHood-Gründer Tenev wird er vor einem Kongressausschuss aussagen müssen.
Ohne die Posts von u/DeepFuckingValue fällt das Gefüge auf WSB endgültig auseinander. Das Chaos ausnutzen tut indes Gründer Rogozinski. Er verkaufte seine Lebensstory RatPac Entertainment, der Filmproduktionsfirma hinter «Wonder Woman» für eine «tiefe sechsstellige Summe». Auch MGM und Netflix sind bereits an einer Verfilmung dran. Der breiten Öffentlichkeit wird er noch immer als treibende Kraft dargestellt
Im Forum WallStreetBets bleibt kein Stein auf dem anderen. In der Nacht vom dritten auf den vierten Februar 2021 wurden in einer koordinierten Aktion die einflussreichsten und wichtigsten Moderatoren vor die Tür gestellt. Darunter befindet sich auch u/zjz. Sein Statement dazu kann hier nachgelesen werden.
Hinter der feindlichen Übernahme sollen sich Moderatoren befinden, die länger nicht mehr aktiv waren, die neu gewonnen Besuchermassen nun aber nutzen wollen. Ein entsprechender Dialog ihres Discord-Kanals kursiert. WallStreetBets entfernt entsprechende Einträge, so schnell es geht. Die Spuren werden verwischt. Der Screenshot zeigt: Erneut wollen Moderatoren das Forum monetarisieren – sogar illegale Pump-&-Dump-Praktiken sollen diskutiert worden sein.
Derweil hat eine Splittergruppe bereits ein alternatives Forum zu WallStreetBets aufgesetzt. Es heisst r/wallstreetbetstest und verfügt momentan über 90'000 Mitglieder. Gestern Abend waren es erst 60'000.
Der Kurs von GameStop fiel in den letzten Tagen auf 53 Dollar. In den Foren reiben sich die Hobbytrader verwundert die Augen. Sie erwachen aus einem Traum, von dem sie noch nicht wissen, ob er ein guter oder ein böser war.
Hold the line!