US-Präsident Donald Trump hat im Gegensatz zu seinem demokratischen Herausforderer Joe Biden eine ganze Reihe von Wahlkampfveranstaltungen durchgeführt, bei denen tausende Teilnehmer dicht gedrängt und grösstenteils ohne Masken vor der Bühne standen. Biden warf Trump vor, er verteile bei solchen «Superspreader-Events» Viren im ganzen Land.
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Eine Studie von Ökonomen der renommierten Stanford University untermauert nun Bidens Vorwürfe mit Zahlen. Das Institut für Politik- und Wirtschaftsforschung publizierte das Papier, das noch nicht von Fachleuten bewertet wurde, am vergangenen Freitag auf seiner Website. Der Befund der Wissenschaftler um den Insitutsleiter B. Douglas Bernheim ist erschreckend: Die 18 Wahlkampf-Auftritte des republikanischen Präsidenten, die zwischen dem 20. Juni und dem 22. September stattfanden, sollen demnach 30'000 Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 und mehr als 700 Covid-19-Todesfälle verursacht haben.
Experten für Infektionskrankheiten hatten schon zuvor vermutet, dass die Wahlkampfveranstaltungen Trumps «Superspreader»-Ereignisse sein könnten. Bisher konnten die Epidemiologen deren Auswirkungen jedoch nicht gut abschätzen, auch weil das Contact Tracing in vielen US-Staaten kaum funktioniert. In einigen Bundesstaaten stellten die Gesundheitsbehörden zwar fest, dass einzelne bestätigte Neuinfektionen bei Personen auftraten, die zuvor an einer Trump-Kundgebung teilgenommen hatten. Sie konnten aber keine kausale Verbindung bestätigen. Im Bundesstaat Minnesota führten die Gesundheitsbehörden laut der Nachrichtenagentur Reuters vier Covid-19-Ausbrüche und mehr als 25 Fälle auf Trump-Kundgebungen im September und Oktober zurück.
Auch der erste Auftritt Trumps im Juni, der in Tulsa im Bundesstaat Oklahoma stattfand, wird mit einem darauffolgenden Anstieg der SARS-CoV-2-Infektionen in Verbindung gebracht. Zwei Wochen nach dem Anlass registrierten die Behörden in Tulsa 206 neue Fälle an einem Tag, was damals ein Rekord war. Ein prominenter Republikaner, Herman Cain, starb an Covid-19. Er hatte an der Veranstaltung teilgenommen, aber man weiss nicht, ob er sich dort angesteckt hatte.
Um den Umfang der Neuinfektionen und der Todesfälle abschätzen zu können, verwendeten die Stanford-Wissenschaftler die statistische Methode der Regressionsanalyse. Sie verglichen dazu die 18 Bezirke, in denen Trump eine Wahlkampf-Veranstaltung abgehalten hatte, mit 200 Bezirken, die ein vergleichbares demographisches Profil aufwiesen und in denen keine Veranstaltung stattgefunden hatte. Diese Bezirke mussten zudem ähnliche Verläufe von Covid-19-Fällen aufweisen wie ihr Vergleichs-Bezirk, und zwar vor dem Datum der Veranstaltung dort.
Auf Basis ihrer Modelle berechneten die Wissenschaftler, dass die 18 Ereignisse – von denen drei in Innenräumen stattgefunden hatten – im Durchschnitt zu einem Anstieg der bestätigten Fälle von mehr als 250 pro 100'000 Einwohner geführt hatten. Die Extrapolation dieses Werts auf die 18 Bezirke ergab dann die Zahl von rund 30'000 Neuinfektionen und 700 Todesfälle, wobei diese nicht nur unter den Teilnehmern selbst auftraten.
Die Studie wurde freilich nicht nur wohlwollend aufgenommen. Der Harvard-Epidemiologe Michael Mina sagte dem Magazin «Politico», die Ausführung der Studie sei durchaus in Ordnung, doch ihre Methodik sei nicht wirklich aussagekräftig. Es gebe bessere Möglichkeiten, diese Daten zu betrachten. Mina fügte an, die Studie biete einen Messpunkt, aber nichts, was klare Schlussfolgerungen erlauben würde. Zudem sei sie dermassen «offen politisch», dass es schwierig zu erkennen sei, ob sie durch eventuell unbewusste Voreingenommenheit beeinflusst sei.
Amesh Adalja, Experte für Infektionskrankheiten am Johns Hopkins Center, sagte Reuters, es sei keine grosse Überraschung, dass Versammlungen von unmaskierten Teilnehmern sehr wahrscheinlich zur Verbreitung des Virus führen würden. Das Stanford-Papier deute darauf hin, dass die Veranstaltungen das Virus verbreitet hätten, es sei aber nicht belastbar, da es nicht auf einer Untersuchung tatsächlicher Fälle beruhe. Dafür seien weitere Untersuchungen nötig.
Dagegen lobte Eleanor Murray, Assistenzprofessorin für Epidemiologie an der Boston University School of Public Health, das Papier. Die Studie wende eine geeignete Methode an. Wenn die zugrunde liegende Grundannahme realistisch sei, könne man sich wahrscheinlich auf die Antwort verlassen, sagte sie «Politico».
Es dürfte kaum verwunderlich sein, dass sich sofort auch politische Stimmen meldeten. Bidens Sprecher Andrew Gates sagte am Samstag laut «Politico», die Studie beweise, das Trump die Pandemie nicht ernst nehme. Diese «Superspreader-Rallys», die nur seinem Ego dienten, kosteten hunderte von Menschenleben und lösten tausende von Fällen aus, sagte Gates. Auch Ex-Präsident Barack Obama erwähnte die Studie während eines Auftritts mit Joe Biden in Michigan.
Ganz anders lautete die Einschätzung der Gegenseite: Judd Deere, ein Sprecher des Weissen Hauses, nannte die Studie «politisch motiviert» und «voller Fehler». Er fügte hinzu, sie bezwecke, die Trump-Anhänger zu beschämen. «Wie der Präsident sagte, die Kur darf nicht übler sein als die Krankheit», sagte Deere. Die USA sollten die Verbreitung von Covid-19 «mit bewährten Methoden» und Wahlfreiheit bekämpfen.
Der Hauptautor der Studie, B. Douglas Bernheim, wies den Vorwurf von sich, die Studie sei politisch motiviert. Die aktuelle politische Lage sei kein Motiv für die jetzige Veröffentlichung gewesen, sagte er. Es sei gängige Praxis für Ökonomen, die eigenen Arbeiten online zu veröffentlichen, bevor sie einer akademischen Zeitschrift vorgelegt würden. Auf diese Weise könnten andere Experten diese im Vorfeld kommentieren.
Wie die «New York Times» berichtet, hat Präsident Trump seit dem Ende des von der Studie abgedeckten Zeitraums weitere rund drei Dutzend Wahlkampf-Veranstaltungen abgehalten.
(dhr)