Als im Frühling 2020 die ersten Coronapatienten im Genfer Unispital lagen, bemerkten die Ärztinnen und Ärzte, dass manchen Patienten nicht bewusst war, dass sie nichts riechen konnten, Atemprobleme oder Konzentrationsstörungen hatten. Aus Studien von früheren Corona-Epidemien mit Sars-1 im Jahr 2003 und Mers 2012 war bereits bekannt, dass das Virus das Gehirn schädigen kann. Und von einigen dieser Fälle war auch bekannt, dass sich die Betroffenen dessen nicht bewusst waren. Fachleute sprechen von Anosognosie.
«Es ist nicht so, dass diese Leute ihre Defizite leugnen würden», sagt Julie Péron, Neuropsychologin in Genf. «Sie bemerken sie tatsächlich nicht. Warum, ist noch nicht klar. Eine Erklärung ist, dass das Virus eine Struktur im Gehirn modifiziert, welche für die Eigenwahrnehmung zuständig ist. Insbesondere das limbische System im zentralen Nervensystem.»
Der Neuropsychologie ist das Phänomen der Anosognosie von Personen nach einem Hirnschlag bekannt. Zum Beispiel kommt es vor, dass jemand danach nur noch eine Körperseite wahrnimmt und deshalb auch nur noch eine Gesichtshälfte schminkt.
Personen mit Anosognosie bemerken deshalb nicht nur ihre Gedächtnis- und Konzentrationsschwierigkeiten nicht, sondern manchmal sagen sie auch, sie fühlten sich komplett gesund, obwohl sie offensichtlich an Atemnot leiden. Auch der Geruchs- oder Geschmacksverlust wird nach einer Sars-CoV-2-Infektion manchmal nicht wahrgenommen.
Sind das skurrile Ausnahmeerscheinungen? Gemäss der Erhebungen von Pérons Team und Kollege Fréderic Assal keineswegs. Ihr Team an der Uni und am Universitätsspital Genf (HUG) führte aus 4000 gesammelten Fällen mit 300 Personen Interviews und wählte schliesslich 102 aus, die auch mit einer genaueren Analyse einverstanden waren. 45 waren wegen Covid-19 auf der Intensivstation eingeliefert worden, 34 hatten einen mittelschweren Verlauf im Spital, 23 waren nicht hospitalisiert worden. Alle hatten sechs bis acht Monate nach der Infektion immer noch Symptome, das Durchschnittsalter lag bei 45 Jahren. Ausgeschlossen wurden Personen über 80 Jahren und alle, die vor Corona Gedächtnisprobleme oder eine psychiatrische Krankheit gehabt hatten.
Ob sie davor schon Anosognosie hatten, kann dennoch nicht ausgeschlossen werden. Das ist zu berücksichtigen beim Resultat nach der ersten Befragung sechs bis neun Monate nach der Infektion: Die Forschenden stellten fest, dass hohe 25 Prozent der Personen betroffen waren. In der Studie wiesen nach einer Krankheit ohne Spitalaufenthalt 15 Prozent Anosognosie auf, nach einem mittleren Verlauf 32 Prozent und nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation 35 Prozent.
Das Ausmass der kognitiven Schwierigkeiten variierte stark, von auf den ersten Blick nicht bemerkbar über grosse Probleme bei der Arbeit bis hin zu Anmeldungen bei der IV. Julie Péron weist darauf hin, dass die Resultate nicht repräsentativ für die ganze Bevölkerung seien. Es brauche breitere Studien. Jedenfalls ist der Anteil der Betroffenen laut Péron keineswegs marginal.
Anosognosie könnte auch erklären, warum man von Corona-Patienten hörte, die erst mit akutem Sauerstoffmangel ins Spital eingeliefert worden waren – die Atemnot also sehr spät bemerkt hatten.
«Die schwer Betroffenen erschienen zum Interview oft mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin», erzählt Péron. «Nicht selten war es in der Familie und auch auf der Arbeit zu Schwierigkeiten gekommen.» Dennoch waren diese Personen keineswegs betrübt oder gar depressiv. Sondern gut gelaunt, als ob nichts wäre.
Entzündungen und eine fehlgeleitete Immunreaktion sind mögliche Erklärungen für das Phänomen. Klar ist: Die Verläufe sind sehr verschieden, Péron vermutet, dass es unterschiedliche Phänotypen gibt. Die Forschenden stellten bei den einen mit den Monaten Verbesserungen fest, bei anderen stagnierte die Gehirnleistung, bei manchen wurde sie schlechter. «Das ist vermutlich auf die stets sehr individuelle Reaktion des Immunsystems zurückzuführen», sagt Péron. So oder so glaubt die Neuropsychologin, dass dieser Corona-Effekt auf die Bevölkerung langfristig sichtbar werden könnte: «Die Arbeitsausfälle aufgrund kognitiver Störungen nach Covid-19 könnten sich in den nächsten Jahren bemerkbar machen.»
Anmeldungen wegen Coronalangzeitfolgen bei der IV gab es im letzten Jahr 1777 – das entspricht 2.3 Prozent aller Anmeldungen bei der IV. Bis im Juli waren es bereits 1124 Anmeldungen, doch das Bundesamt für Sozialversicherungen BSV teilt auf Anfrage mit, man erwarte aufgrund der Schwankungen über die Monate Ende Jahr nur wenige mehr als 2021. Harald Sohns vom BSV sagt: «Das würde Konstanz bedeuten, da 2021 als ‹Anfangsjahr› mit unterdurchschnittlich vielen Anmeldungen betrachtet werden kann.»
Ich weis es nicht….