Wir von watson sind ja eigentlich grosse Tierfreunde. Auf der Redaktion ist immer mal wieder ein Hund oder eine Hündin zu Gast, freitags gibt es von Pascal Scherrer immer liebevoll kuratiert die Cute News und auch der Katzencontent wurde im Grunde erst durch uns salonfähig.
Doch dann hin und wieder ... naja, sagen wir mal ... schiessen wir den Vogel ab.
Was ist passiert? Vergangene Woche wurden wir via Twitter auf einen Wanderfalken aufmerksam, der sich auf einem Hochkamin an der Zürcher Josefstrasse eingenistet hat. Er ist jetzt quasi unser Nachbar. Zwischen unserem Büro und seinem neuen Zuhause liegen gerade mal 150 Meter.
Würde der Wanderfalke diese Strecke im Sturzflug zurücklegen, hätte er nicht einmal zwei Sekunden, bis er bei uns in die Küche hineinflattern würde. 300 km/h kann der Vogel erreichen. Schneller beim Kühlschrank ist nur Willi, wenn das Freitagsbier eingeläutet wird. Doch die Redaktions-Legende ist jetzt leider in Pension. Prost, an dieser Stelle.
Der Wanderfalke von nebenan hat da einige Jahre weniger auf dem Buckel. Und er ist so aktiv, wie man es sich nur vorstellen kann. Wie ein Blick auf die Livecam zeigt, ist er ein überaus tüchtiger Jäger. In seinem Horst türmen sich die Taubenknochen.
Dieser Anblick schreckte ein geschätztes Redaktionsmitglied derart auf, dass er sofort in die Tasten haute und ein «Massaker» herbeischrieb. Der Wanderfalke – ein rücksichtsloser, blutrünstiger Mörder. Der Anblick der Kadaver «verstörend».
Doch das geschätzte Redaktionsmitglied legte sich mit dem Falschen an. Denn der Wanderfalke hat eine treue Fangemeinde, wie sich innerhalb nur weniger Minuten herausstellen sollte.
Nach Veröffentlichung des Artikels entlud sich in den Kommentarspalten, was man heutzutage wohl einen Shitstorm nennt.
Wir versuchten, das Schlimmste zu verhindern, indem wir den Titel einige Male entschärften. Doch das Verdikt der besten Community der Welt war da schon längst gefällt: watson, so nicht! 👎
Dieser Kommentar erhielt etwa über 2000 Herze und gerade mal 30 Blitzer, um euch einen Eindruck in die Stimmung der Kommentarspalte zu geben.
Diese Schelte mussten wir zuerst einmal verdauen. Zumal wir unseren Ruf als seriöses Vogel- und Tauben-Portal ernsthaft in Gefahr sahen. Diesen hatten wir uns in den vergangenen Wochen mit mehreren Artikeln ehr und redlich erarbeitet. (Kein Witz jetzt, du kannst unsere Tauben-Storys hier, hier und hier nachlesen.)
Übers Wochenende gingen wir in uns und kamen zum Schluss, dass die Kritik an unserer Berichterstattung absolut verdient ist. Denn es ist mitnichten so, dass der Wanderfalke, wie von uns dargestellt, ein skrupelloser Übeltäter ist und die Tauben die bemitleidenswerten Opfer. So einfach ist das Ganze nicht.
Zahlreiche Userinnen und User machten uns darauf aufmerksam, dass die Wanderfalken in der Schweiz eine ziemlich harte Zeit durchmachten und dies auch noch heute tun. Ein User, der uns kontaktierte, war Stefan Greif von «Birdlife Schweiz». Zunächst konnten wir kaum glauben, was der Naturschützer uns via Mail schilderte. Von Vergiftungen und «Kamikaze-Tauben» schrieb er uns.
Also riefen wir ihn an. Das, was er uns erzählte, haute uns so ziemlich aus den Socken. Also entschieden wir uns, diesen Folgeartikel zu schreiben. (Die Chefredaktion hat die dankenswerte Aufgabe mir erteilt. Ich sei es ja bereits gewohnt, mich zu entschuldigen. «Manser, zurückkrebsen, kannst du!» Sonnige Grüsse an Malbun und Unteriberg.)
Anyway, zurück zu den Wanderfalken!
Diesen ging es in der Schweiz bis in die 80er-Jahre äusserst schlecht in der Schweiz. Der Bestand verkleinerte sich in beängstigendem Ausmass. Der Grund dafür: Das Insektizid DDT, welches mittlerweile verboten wurde.
Für Wanderfalken hatte der Kontakt mit DDT verheerende Folgen. «Die Schalen der Eier werden dünner. Wenn sich das Weibchen bei der Brut auf die Eier setzt, zerbrechen diese», erklärt uns Stefan Greif.
Das Aussterben des Wanderfalken in der Schweiz konnte durch das DDT-Verbot verhindert werden, der Bestand erholte sich bis ins neue Jahrtausend wieder. Doch seit etwa 10 Jahren habe man ein Plateau erreicht, sagt Greif. Seit kurzem sei der Bestand an Wanderfalken sogar leicht rückläufig. In der Schweiz werden momentan etwa 300 Paare gezählt.
Mit ein Grund, weshalb sich der Bestand nicht weiter erholt, ist ein ziemlich übler. Und zwar werden die Wanderfalken immer wieder vergiftet. Ja, du liest richtig: Vergiftet. Und zwar nicht irgendwie vergiftet, sondern auf eine ziemlich perfide Art und Weise, wie uns Greif erzählt.
Wanderfalken-Hasser und Taubenzüchter würden immer wieder Tauben am Nacken mit einem giftigen Pflanzenschutzmittel einreiben. «Dabei werden den Tauben auch schon mal Federn ausgerissen, damit diese leichtere Beute sind», erläutert Greif. «Kamikaze-Tauben», nenne man die mit Gift präparierten Tiere.
Dank Greif wissen wir jetzt auch, dass ein Wanderfalke ein sogenannter «Apex Predator» ist. Ein Jäger, der ganz zuoberst auf der Nahrungskette steht. Zuoberst auf dem Speiseplan unseres Top-Jägers stehen Tauben. Doch der Wanderfalke erkennt natürlich nicht, ob es sich um eine «Kamikaze-» oder normale Taube handelt.
Erwischt er eine «Kamikaze-Taube» so ist das mit ziemlicher Sicherheit sein Todesurteil. 2011 zeichnete die Kamera auf dem Hochkamin an der Josefstrasse auf, was passiert, wenn ein Wanderfalke eine «Kamikaze»-Taube zu essen versucht. (Schaut euch das Video nur an, wenn ihr zäh im Nehmen seid. Die Bilder sind unschön.) Es dauert nur wenige Minuten, bis das Tier stirbt.
Doppelt bitter ist: Wenn das Weibchen an einer Vergiftung stirbt, sterben die Jungvögel auch, da sie nicht mehr ernährt werden können.
Bei der Vergiftung von 2011 handle es sich bei Weitem nicht um einen Einzelfall, erzählt uns Greif. Es sei jedoch sehr schwierig, zu beziffern, wie viele Vergiftungen es tatsächlich gebe. Viele Fälle bleiben unentdeckt oder können nicht nachgewiesen werden. In den vergangenen zehn Jahren habe man schweizweit bei mehr als einem Dutzend Fällen eine Vergiftung via «Kamikaze-Taube» nachweisen können. Dazu kamen weitere «Kamikaze-Tauben» und dringende Verdachtsfälle. «Dies ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs», ist sich Greif sicher.
Wird eine Person erwischt, die ihre Taube mit Gift eingestrichen hat, hat dies ernsthafte Konsequenzen. Im Jahr 2017 wurde ein Taubenzüchter zu fünfzehn Monaten bedingter Freiheitsstrafe und 1500 Franken Busse plus 8000 Franken Verfahrenskosten verurteilt.
Greif ist sich sicher, dass Taubenzüchter trotz dieses Urteils weiterhin «Kamikaze-Tauben» einsetzen. Erst letztes Jahr starben wieder 4 Wanderfalken nach einer Vergiftung in Basel. Deshalb arbeitet «Birdlife» eng mit der Polizei zusammen.
Tatsächlich sind die Wanderfalken eine grosse Bedrohung für die Taubenzüchter. Einer von ihnen, der nicht namentlich genannt werden will, erzählt uns am Telefon, dass seit Anfang März von seinen 66 Tauben bereits sechs von einem Wanderfalken erledigt worden seien.
Dies kann ordentlich ins Geld gehen. Für eine erfolgreiche Taube, die unter anderem bei Rennen eingesetzt werden kann, werden zuweilen mehrere Tausend Franken hingeblättert. Ende 2020 wurde für das weibliche Renn-Talent New Kim gar 1,7 Millionen Franken bezahlt. Dies seien aber Ausnahmefälle, sagt Greif. «Es gibt sicher die Tauben, für die man mehrere Tausend Franken zahlt. Aber genau so wie der ein oder andere einen Ferrari durch die Stadt fährt, sind die meisten doch eher mit einem günstigeren Auto unterwegs.»
Lieber Userinnen, liebe User, ihr wusstet es ja bereits letzte Woche – jetzt wissen es auch wir: Es ist die natürlichste Sache der Welt, wenn sich in einem Wanderfalken-Horst die Tauben-Kadaver türmen. «Verstörend» ist das höchstens, wenn diese mit Gift eingestrichen wurden.
In diesem Sinne: Sorry, liebe Vogelfreundinnen und Vogelfreunde!