Orange. Und damit durchgefallen. Vor mir auf dem Tisch liegt eine Nuss-Beeren-Mischung. Ich hatte sie gleich am Anfang aus meinen Vorräten gefischt, um das Experiment einigermassen schmeichelhaft zu starten. Nüsse sind gesund, sie enthalten viele ungesättigte Fettsäuren. Und die paar getrockneten Beeren, die sich dazwischen tummeln, enthalten einige Vitamine. Ein gesunder Brainfood also?
Falsch. Das zeigt zumindest die Ampel auf meinem Handy. Im dunkelorangen Kreis prangt der Buchstabe «D». Von fünf Abstufungen landet somit jene Nussmischung, mit der ich meine nachmittäglichen Gelüste nach Schokolade abwehre, auf dem zweitletzten Platz.
Nutri Score heisst das System, das mit einer fünfstufigen Skala aufzeigen soll, wie gesund ein Lebensmittel ist. Die Spitzenreiter «A» und «B» blühen im grünen Kreis auf, für das mittelmässige «C» gibt es gelb, und die Schlusslichter «D» und «E» haben orange und rote Kreise. So weit, so übersichtlich.
Konsumenten- oder Ärztevereinigungen unterstützen den Nutri Score. Es brauche ein unabhängiges, wissenschaftlich evaluiertes System, argumentieren sie. Detailhändler wie Migros und Coop lehnen ihn wenig überraschend ab. Die bestehenden Nährwerttabellen reichten aus, eine weitere Kennzeichnung sei nicht notwendig, schreibt der Dachverband IG Detailhandel in seinem Positionspapier.
Doch die Grossisten kommen unter Druck: Hersteller Danone kennzeichnet seine Produkte bereits mit dem Nutri Score. Nestlé und nun auch Aldi wollen nachziehen. Nur: Wie hilfreich ist das Ampelsystem tatsächlich für die Kunden?
Eine Woche lang scanne und überprüfe ich meine Einkäufe. Während die Debatten andauern, lassen sich bereits heute dank Apps die Lebensmittel mit dem Nutri Score überprüfen. Die Handy-Kamera erfasst den Strichcode, um Sekunden später die Ampel leuchten zu lassen. Anfänglich funktionieren die Vergleiche gut. Zum Beispiel bei jenen Produkten, die berühmt-berüchtigt sind, Zuckerbomben zu verstecken: Frühstücks-Müesli.
Statt mühsam in sämtlichen Nährwerttabellen den Zuckergehalt herauszusuchen, lässt sich über die App Nutri Scan eine Rangliste abrufen, um dann ein «A»-Müesli aus dem Regal zu ziehen. Der Vergleich zeigt: Aufdrucke wie «Vollkorn» oder «10 Prozent Nahrungsfasern» klingen zwar gut, machen die Produkte aber nicht zum gesunden Lebensmittel. Solcher Etikettenschwindel soll nun mit dem Nutri Score beendet werden.
Doch beim weiteren Gang durch die Regale irritiert die Lebensmittel-Ampel zunehmend. Das dunkle und frische Proteinbrot von Coop erhält dasselbe hellgrüne «B», wie die weissen Toastbrot-Scheiben von Prix Garantie. Während sich letztere wie Luft im Bauch anfühlen, macht das Brot satt. Auch vor der Käsetheke runzelt sich die Stirn beim Blick aufs Handy. Deren Produkte schneiden beim Nutri Score generell schlecht ab, wohl wegen ihrem hohen Fettanteil. Mit Ausnahme von Cottage Cheese. Aber weder Tilsiter, Emmentaler noch Feta schaffen es in den grünen Bereich. Obwohl Käse durchaus seine Berechtigung auf dem täglichen Menüplan hat, leuchtet die Ampel fast nur in oranger Farbe.
Ein anderes Bild zeigt sich hingegen beim Convenience Food. Dort finden sich Fertigpizzen mit einem guten «B». Und sowohl bei Migros als auch bei Coop gibt es Fertiglasagnen, die ein «A» einheimsen. Ich bin irritiert. Wenn ich den Empfehlungen folgen würde, könnte ich den Laden mit einem Korb voller hochverarbeiteten Lebensmittel verlassen. Also mit jenen Produkten, vor denen Ernährungsberater abraten. Offensichtlich bedeutet «grün» nicht gleich gesund. Vor den Kühlregalen stehend, frage ich mich: Wie kann das sein? Und wie soll diese Ampel helfen, die Volkskrankheit Übergewicht in den Griff zu bekommen?
Auch das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit (BLV) befürwortet die Lebensmittelampel. Dort heisst es: «Nutri Score ist keine absolute Bewertung eines Produktes, sondern hilft, ähnliche Produkte miteinander zu vergleichen und eine bewusste Wahl zu treffen.» Das BLV unterstütze die Einführung des Ampelsystems, weil es einfach zu lesen sei und das Lebensmittel statt in einzelnen Nährstoffen in seiner Gesamtheit bewerte. Nutri Score ersetze weder die geltenden Ernährungsempfehlungen noch die Lebensmittelpyramide. Es zeige aber, welches Produkt aus der gleichen Lebensmittelgruppe die bessere Zusammensetzung habe, schreibt die Sprecherin des Bundesamts. Im Laden zeigt sich: Das klappt, wenn ich mich sowieso für Convenience Food entschieden habe. Will ich aber beispielsweise Feta-Käse kaufen, hilft der Nutri Score nicht. Jedes Produkt zeigt ein schlechtes «D».
Das Ampelsystem wurde 2017 in Frankreich eingeführt – auf freiwilliger Basis. Länder wie Spanien oder Belgien zogen nach. In Deutschland verkommt es hingegen zum Politikum. Die zuständige Ernährungsministerin, Julia Klöckner (CDU), wird für ihr zögerliches Vorgehen bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln scharf kritisiert. Die Verbraucherorganisation Foodwatch wirft ihr Verhinderungspolitik vor.
Der Frust scheint besonders tief zu sitzen, da die Ernährungsindustrie jahrelang gegen eine einfache Kennzeichnung gekämpft hat. Als dann Hersteller eigene Ampel-Modelle vorlegten, zeigte sich: Das waren Mogelpackungen. Statt einer einheitlichen Mengenangabe gaben sie die Nährwerte einer Portion an. Wie viel diese umfasste, legten die Produzenten fest. Damit etwa der Lion-Schokoriegel einigermassen akzeptabel daherkam, definierte Nestlé eine Portion mit 30 Gramm. Verkauft werden die Riegel jedoch in Packungen mit 42 oder 65 Gramm, wie Foodwatch aufzeigte.
Das ist beim Nutri Score anders. Bei diesem System wird immer von 100 Gramm ausgegangen. Im Vergleich mit anderen Kennzeichnungsmodellen schnitt der Nutri Score in Studien auch gut ab. Den zugrunde liegende Algo-rithmus entwickelten Wissenschaftler. Um die Qualität eines Lebensmittels zu berechnen, haben sie eine Art Punktesystem entwickelt. Nahrungsfasern und Proteine sorgen zum Beispiel für Pluspunkte; Abzüge gibt es unter anderem für gesättigte Fettsäuren, Zucker oder Salz.
Nur: Mineralstoffe, Vitamine oder Spurenelemente bleiben aussen vor. Unberücksichtigt bleiben ebenso Zusatzstoffe wie künstliche Geschmacksverstärker, Süss- oder Farbstoffe. Also genau jene Zusätze, die aus der Zutatenliste oft regelrechte Bandwürmer machen.
Selbst eine Befürworterin des Nutri Score wie Josianne Walpen von der Stiftung für Konsumentenschutz räumt ein, dass das System Unschärfen habe. «Es wäre wünschenswert, wenn mehr Faktoren einbezogen werden könnten», sagt sie. Momentan sei dies aber nicht möglich. Der Nutri Score könne nur berechnen, was angegeben werden müsse. «Bei den Zusatzstoffen kennen aber nur die Hersteller die Menge und die Relevanz», sagt Walpen.
Werden die Konsumenten aber nicht in falscher Sicherheit gewogen, wenn eine grüne Note nicht automatisch bedeutet, dass ein Produkt gesund ist? Dazu sagt die Konsumentenschützerin: «Der Nutri Score hilft vor allem, Produkte zu vergleichen – also zum Beispiel Fertigpizzen einander gegenüber zustellen. Aber er setzt auch ein gewisses Ernährungswissen voraus. Zum Beispiel, dass man hoch verarbeitete Produkte wie Fertigpizzen grundsätzlich zurückhaltend konsumieren sollte.»
Das wird auch deutlich, wenn man durch die Rangliste der Joghurts scrollt. Vor allem Light-Produkte schaffen es in den dunkelgrünen Bereich. Dasselbe Bild zeigt sich bei Coca-Cola. Mit Zucker bekommt das Getränk ein rotes «E», in der Light-Version hingegen ein «B». Dabei haben Studien längst gezeigt, dass solch künstlich verschlankte Produkte beim Abnehmen oft keine Hilfe sind. Im Gegenteil. Die künstliche Süsse weckt beim Gehirn eine Erwartung, die nicht eintrifft. Der Appetit bleibt – und lässt oft zum nächsten Snack greifen.
«Um das Gewicht zu kontrollieren, ist es sinnvoller, auf unverarbeitete oder minimal verarbeitete Lebensmittel zu greifen», sagt David Fäh, Ernährungsexperte an der Berner Fachhochschule. Rohe, ungesalzene Nüsse können trotz des hohen Gehalts an Kalorien beim Abnehmen helfen.
Für Fäh müsste der Nutri Score weiter entwickelt werden, um ein effektives Hilfsmittel zu sein: «Wie gesund ein Lebensmittel ist, hängt stärker vom Verarbeitungsgrad ab als von der Zusammensetzung ». Er verweist auf eine Studie, die im Mai für Aufsehen gesorgt hat. Darin zeigen US-amerikanische Forscher auf, dass hochverarbeitete Nahrungsmittel dazu verleiten, mehr zu essen. «Generell weisen solche Produkte eine höhere Kaloriendichte auf. Zudem verschwinden durch den Herstellungsprozess wertvolle Stoffe und problematische kommen hinzu», sagt Fäh. Er plädiert dafür, den Nutri Score mit einem weiteren System zu koppeln: der Nova-Klassifikation. Sie teilt die Lebensmittel in vier Gruppen ein – nach Grad ihrer Verarbeitung.
Nicht über das Ampelsystem aufregen mag sich Psychologe Michael Siegrist von der ETH Zürich. Er erforscht das Konsumverhalten und hat auch Tests zum Nutri Score durchgeführt. «Unsere Ergebnisse zeigen, dass der Effekt in Bezug auf den Kaufentscheid bescheiden ausfällt», sagt er. Das Gesundheitsbewusstsein stelle nur einen Faktor dar, zu welchen Produkten wir greifen. «Stärker wiegt der Preis und vor allem, wie gut es uns schmeckt», sagt Siegrist.
Nach einer Woche mit den Nutri-Score-Apps hat sich auch bei mir fast nichts verändert, ausser dass ich am Nachmittag an einer neuen Nussmischung knabbere. Im grünen Bereich.
Welche Lebensmittel sind gesund? Das soll das Ampelsystem von Nutri Score zeigen. Durch die starke Vereinfachung können aber auch hochverarbeitete oder minderwertige Produkte gut abschneiden.
Dr Barista
sowhat
Das Brotbeispiel ist eklatant und 100g Fertigpizza und 100 g Nüssen gleich zu bewerten ist nutzlos. Wer hört nach 100 g Pizza auf? Und wie oft isst man 100g Nüsse auf einmal?
Da ist die Portionenrechnung allemal zielführender.
Amaranth17
Besser wäre wohl, das Lebensmittel einzuscannen plus Angabe der verspeiste Menge um am Ende des Tages eine Bewertung des Tageskonsums zu erhalten. Sonst kann man gleich beim Ernährungsplan bleiben.