Es war ein revolutionärer Gedanke, den der griechische Philosoph Demokrit († um 370 v. Chr.) formulierte: «Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süss oder bitter, in Wirklichkeit gibt es nur Atome im leeren Raum.» Diese Atome (von griech. «a-tomos», «unteilbar») stellte sich Demokrit als die kleinsten Einheiten der Materie vor. Die neuzeitliche Physik nahm den Begriff auf und entwickelte unterschiedliche Atommodelle, wobei allerdings das Atom seine Stellung als kleinste Einheit einbüsste. Heute ist eine ganze Reihe von subatomaren Teilchen bekannt – ein regelrechter «Teilchenzoo».
Zu diesem «Zoo» gehört auch das sogenannte W-Boson. Das 1983 entdeckte Teilchen erregte bisher kaum Aufsehen, ganz im Gegensatz zum ungleich berühmteren Higgs-Boson, dessen Nachweis am CERN 2012 die Wissenschaftsgemeinde in Aufregung versetzte. Doch jetzt hat die Datenanalyse eines internationalen Forscherteams das bescheidene Teilchen plötzlich ins Scheinwerferlicht gerückt: Das W-Boson könnte deutlich schwerer sein, als bisher gedacht. Dies ist weniger trivial, als es erscheinen mag: Sollte der Befund sich erhärten, würde er das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik ins Wanken bringen.
So unspektakulär das W-Boson bisher auch in Erscheinung trat, so wichtig ist es für das erwähnte Standardmodell. Es handelt sich um ein Eichboson, also um eines jener Elementarteilchen, die die Grundkräfte vermitteln. Im Falle des W-Bosons ist es die Schwache Wechselwirkung (auch «schwache Kernkraft» genannt), eine der vier fundamentalen Wechselwirkungen der Physik neben der Starken Wechselwirkung, dem Elektromagnetismus und der Gravitation. Sie ist im Gegensatz etwa zur Gravitation im Alltag nicht zu bemerken und wirkt wie die Starke Wechselwirkung nur auf äusserst kurze Distanzen. Unter anderem sorgt sie für die Umwandlung von Protonen in Neutronen bei der Kernfusion.
Das W-Boson ist verantwortlich für die sogenannten «geladenen Ströme» der Schwachen Wechselwirkung; je nach elektrischer Ladung spricht man von W+-und W--Bosonen. Zusammen mit dem elektrisch neutralen Z0-Boson – sozusagen seinem Cousin – vermittelt es als Botenteilchen die Schwache Wechselwirkung zwischen Teilchen mit schwacher Ladung. Dies geschieht durch Emission und Absorption dieser Botenteilchen. So kann sich das Elektron (es gehört zur Teilchenklasse der Leptonen) beispielsweise durch Emission eines W--Bosons in das elektrisch neutrale Elektron-Neutrino verwandeln.
In vielen Prozessen tritt das W-Boson lediglich als virtuelles Teilchen auf, quasi als kurzzeitiger Zwischenzustand der während einer Wechselwirkung zweier Teilchen auftritt. Das W-Boson kann in diesem Fall selbst nicht beobachtet werden, sondern nur seine Zerfallsprodukte, ein Elektron und ein Anti-Elektronneutrino. Allerdings kann es in Teilchenbeschleunigern wie am CERN erzeugt werden, wenn hochenergetische Teilchen wie Protonen frontal aufeinanderprallen. Die auf diese Weise erzeugten W-Bosonen sind äusserst kurzlebig.
W-Bosonen sind wahre Schwergewichte – anders als etwa die Gluonen der Starken Kernkraft oder die Photonen der elektromagnetischen Wechselwirkungen, die masselos sind. Ihre Masse, die aus theoretischen Berechnungen zu ihren Interaktionen mit anderen Teilchen ermittelt wurde, ist rund 80-mal grösser als jene eines Protons. Das Standardmodell der Teilchenphysik postuliert für seine Masse einen Wert von 80,357 ± 6 MeV/c2.
Nun kommt aber das internationale Forscherteam ins Spiel, das einen gigantischen Datenberg analysiert hat. Es wertete Daten aus den Jahren von 2002 bis 2011 des Tevatron-Teilchenbeschleunigers im US-Staat Illinois aus, der bis 2011 betrieben wurde. Dort wurden Protonen und Antiprotonen beschleunigt und auf Kollisionskurs gebracht; die Kollisionen erzeugten eine Vielzahl von kurzlebigen Teilchen, darunter auch W-Bosonen. Diese können deshalb viel schwerer sein als die ursprünglichen Protonen, weil die Kollisionsenergie in Masse umgewandelt werden kann.
Die Analyse der insgesamt mehr als 4,2 Millionen potenziellen W-Bosonen verschlang ein Jahrzehnt, aber der für die Masse des Teilchens ermittelte Wert dürfte – zumindest nach Ansicht der beteiligten Physiker – präziser sein als jeder zuvor gemessene. Die Unsicherheit soll demnach lediglich 0,01 Prozent betragen.
Statt der erwarteten 80'357 ± 6 MeV/c2 kam das Team auf 80'433,5 ± 9,4 MeV/c2. Der Unterschied scheint minim, aber er ist laut dem Forscherteam, das seine Ergebnisse am Donnerstag im Wissenschaftsmagazin «Science» veröffentlichte, statistisch signifikant. Die Signifikanz betrage sieben Standardabweichungen (Sigma) – mithin mehr als die fünf Sigma, die in der Teilchenphysik gemeinhin als Schwellenwert für eine Entdeckung gelten. Die Physiker schliessen aus der deutlichen Abweichung darauf, dass sich der von ihnen gemessene Wert nicht mit dem Standardmodell der Teilchenphysik vereinbaren lässt.
Der neue Wert bestätigt einige frühere Messungen, die ebenfalls höhere Werte für die Masse des W-Bosons ermittelt hatten. Es gab jedoch auch Messungen, die keine signifikanten Abweichungen ergaben – etwa eine am Large Hadron Collider (LHC) des CERN. Dies lässt Zweifel am Resultat aufkommen: «Alle diese Messungen behaupten, die gleiche Grösse zu messen», wird ein Physiker in einem Begleitartikel zur Studie in «Science» zitiert. «Jemand muss sich, ich will nicht sagen, geirrt haben, aber vielleicht hat er einen Fehler gemacht oder die Fehlerbewertung zu aggressiv betrieben.» Weitere Messungen erscheinen daher unabdingbar.
Allerdings sind die neuerlichen Diskrepanzen bei der Masse des W-Bosons Anlass genug, sich Gedanken über das Standardmodell der Teilchenphysik zu machen. «Der überraschend hohe Wert für die W-Boson-Masse steht im Widerspruch zu einem fundamentalen Element im Herzen des Standardmodells», heisst es in einem weiteren Begleitartikel in «Science».
Für die Physik kommt dieser Widerspruch quasi wie gerufen, denn das Standardmodell ist mit Mängeln behaftet. Es kann zum Beispiel die Dunkle Materie nicht erklären, die in kosmologischen Modellen eine wichtige Rolle spielt. Zugleich konnte es bisher nicht widerlegt werden – Messungen pflegten jeweils die Vorhersagen des Standardmodells zu bestätigen. So gesehen könnte die neue Masse des W-Bosons ein Hinweis darauf sein, dass eine «neue Physik» am Horizont erscheint. (dhr)
Danke! Die Wissenschaft hat im postfaktischen Zeitalter mehr Aufmerksamkeit verdient. Um eben dieses Zeitalter wieder hinter uns zu lassen.
In der Schule kam ich aber schon mit dem Hebelgesetz in Konflikt... hatte auch des öfteren eine "Standardabweichung" 😂