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Die Russen sind standhaft. Vielleicht, weil sie pünktlich zur Admiralsstunde, um zwölf Uhr mittags, ihren ersten Vodka trinken. Vielleicht auch, weil sie «überhaupt breit angelegt sind, breit wie ihr Land», schreibt Dostojewski und meint damit eventuell, dass der russische Mensch dadurch eine stabilere Basis hat und eben darum nicht so leicht umkippt. Vor allem aber ist er standhaft, weil er in seinen wunderschönen, orthodoxen Kirchen während der gesamten Messe stehen muss. Da sind keine Bänke. Da sind nur Ikonen. Und vom Kuppel-Inneren herunter schaut Jesus und strahlt.
Alles strebt in dieser Architektur nach oben zu Gott. Doch bevor du ins Paradies gelangst, musst du vor dem jüngsten Gericht bestehen. Darum das Fresko, das dich beim Verlassen der Mariä-Entschlafens-Kirche mit dem demütig knienden Adam und seiner Eva konfrontiert. Und mit einer Riesenschlange, die dir den Weg ins Fegefeuer weist, sollten deine schlechten Taten überwiegen.
Iwan der Schreckliche (1530–1584) muss dennoch auf direktem Wege in die Hölle gefahren sein. Obwohl «schrecklich» eine schlechte Übersetzung ist. Besser sei «furchteinflössend», sagen die Russen. Nun, wahrscheinlich hing beides irgendwie zusammen. Denn Iwan, der erste unter Moskaus Grossfürsten, der zum Zaren gekrönt wurde, quälte gerne Tiere und Menschen.
Mit 13 Jahren liess er seinen Konkurrenten von ausgehungerten Jagdhunden zerreissen. Da war der Junge bereits Vollwaise – sein Vater, der Grossfürst Wassili III., lag seit zehn Jahren unter der Erde und seine Mutter starb 27-jährig, wahrscheinlich von den Bojaren (Adlige unterhalb des Ranges eines Fürsten) vergiftet. Der Kampf um die Regentschaft war gnadenlos. Und in dieser brutalen Umgebung hinter den Kremlmauern wurde Iwans Herz zu Stein.
Er misstraute jedem und schickte seine «Opritschnina» über das Land, eine berittene Bande von 15'000 Leibwächtern, Spitzeln und Henkern. Iwan liess riesige eiserne Pfannen giessen, um darin seine Opfer lebendig zu braten. Und auf dem Moskauer Hauptplatz – dem Vorgänger des Roten Platzes – fanden Massenhinrichtungen statt.
Diese Leichen sind natürlich längst weg, dafür liegen jetzt andere da. Aus einer späteren Zeit, die ebenso ihre dunklen Kapitel schrieb. Die berühmteste unter ihnen ist Lenin, der nunmehr einbalsamierte Vater der Revolution mit den künstlichen Wimpern, der bis heute in seinem Mausoleum an der Kremlmauer liegt. In seinem gläsernen Sarg herrschen sieben Grad Celsius.
Lenin sieht jedes Jahr ein bisschen besser aus, weil sich die Forscher der Mausoleum-Gruppe so gut um ihn kümmern. Sie balsamieren ihn alle zwei Jahre neu ein und ersetzen die faul gewordenen Haut- und Fleischpartien mit Plastik. Dazu kriegt er alle drei Jahre einen neuen Massanzug frisch aus der Schweiz, wo das Lüstergewebe produziert wird; ein glänzender Wollstoff, den Lenin wohl während seines Zürcher Aufenthalts zu schätzen gelernt hat. Nur 2009 hat er keinen neuen bekommen. Wegen der Wirtschaftskrise wurde sein Anzug nur gründlich gewaschen und glattgebügelt.
Hinter dem Mausoleum und der gewaltigen Kremlmauer steht der Senatspalast. Seit dem frühen 18. Jahrhundert diente er als Hauptsitz des Regierenden Senats des Russischen Zarenreichs. Nach der Oktoberrevolution 1917 quartierte sich hier die sowjetrussische Führungsriege ein. Lenin und Stalin liessen sich darin eine Dienstwohnung einrichten.
Heute ist es Putins Arbeitsplatz. Und das Fähnchen auf der Spitze des Palastes ist immer da. Selbst wenn Putin nicht da ist. Und man erzählt sich, es würde sogar wehen, wenn überhaupt kein Wind geht.
Putin sieht aber von seinem Sitz nicht auf die prächtige Christ-Erlöser-Kathedrale, weil sie auf der jenseitigen Seite der Kremlmauer steht. Zar Alexander I. errichtete sie als Symbol für den Sieg Russlands über Napoleon im Vaterländischen Krieg 1812. Alexander und sein Generalfeldmarschall Kutusow hatten es der Grande Armée gezeigt. Oder besser das raue und unerbittliche Winterland hatte es ihr gezeigt. Viele der völlig zerlumpten, verlausten und ausgehungerten Soldaten, die vom Russlandfeldzug heimkehrten, liessen ihre Nasen, ihre Ohren oder ihre Fusssohlen im russischen Schnee zurück.
Die Kirche sollte nun also die Macht des russischen Zarenreichs ausdrücken, das mit Gottes Hilfe den Sieg über diesen kriegerischen Korsen errungen hatte.
Sie stand bis zum 5. Dezember 1931. An diesem Tag liess sie Stalin sprengen. Das Zarenreich war tot und der Glaube nichts weiter als Opium fürs Volk. Siegreich war allein die Sowjetunion, die auf der Asche der letzten Romanows errichtet wurde. Das sollte auch architektonisch zum Ausdruck kommen. Deshalb beschloss Stalin, auf dem Grundstück der Kathedrale einen Sowjet-Palast zu errichten.
Dieser Palast sollte die bis dahin unvorstellbare Höhe von 415 Metern erreichen. Höher als das Empire State Building, das im selben Jahr den New Yorker Himmel mit seiner 381-Meter-Spitze anstach.
Den Architektenwettbewerb gewann Boris Iofan mit seinem gar nicht mal so hübschen «Turmbau zu Moskau»:
Mehr als das Fundament wurde aber nicht gebaut. Der Krieg gegen Hitlers Truppen, die am 2. Oktober 1941 gegen Moskau vorstiessen, war dazwischen gekommen. Nach Stalins Tod 1953 verlor der Bau die hohe Priorität, die ihm der Diktator beigemessen hatte.
Stattdessen wurde das ganzjährig beheizte Freibad Moskwa gebaut. Doch daran fand wiederum das Puschkin-Museum für Bildende Künste keinen Gefallen. Weil nämlich der Dampf vom Schwimmbecken bis an seine Haustür herüberwaberte und die Kunstwerke bedrohte.
Erst 1995, als das Schwimmbad schon marod geworden war, wurde die Christ-Erlöser-Kathedrale originalgetreu wieder errichtet.
«Das ist Russland», sagt unsere Führerin Tatjana. «Und dass wir die grösste Kanone und die grösste Glocke haben. Aber die Kanone hat nie geschossen und die Glocke niemals geläutet. Weil beide nicht funktionieren.»
Tatjana lacht und wir spazieren zurück zum Roten Platz, auf der die Basilius-Kathedrale steht. Sie wurde zu Ehren Iwan des Schrecklichen errichtet. Denn er hatte die Tataren in mehreren Schlachten besiegt. Er stach dem Architekten danach die Augen aus. Damit er nichts von vergleichbarer Schönheit errichten konnte. Na gut, das ist jetzt eine Legende.
Fast genau hundert Jahre später sitzt Peter der Grosse auf dem Thron. 1682 wird der über zwei Meter grosse Mann mit den schmalen Schultern zum Zaren ernannt, der auf dem vergangenheitslosen Sumpfgebiet an der Newa eine neue Stadt baut, die sich zur neuen Hauptstadt erheben wird. Eine Stadt aus Stein, in der keine Holzhäuser erlaubt sind. Und dessen Fenster nach Europa schauen.
In Peters Stadt regiert die Geometrie: Kanäle und die vom Tessiner Architekten Domenico Trezzini entworfenen Hauptstrassen – die die Russen Prospekte nennen, weil sie das Wort Perspektive nicht richtig aussprechen konnten – durchstossen die Stadt wie Pfeile, dessen Enden in eine erdachte Unendlichkeit zeigen. Hier hat sich der Westen eingenistet mitsamt seiner Betonung des Horizontalen.
Puschkin besingt die Stadt, als sie schon hundert Jahre alt ist. Sie wird jetzt von Nikolaus I. regiert, dem Nachfolger des Napoleon-Bezwingers Alexander. Überall erheben sich prunkvolle Kirchen und Paläste, mit ihrer schönsten Fassade zur Newa schauend.
Doch dann demontiert der Dichter den Mythos Peters und seiner perfekten Stadt, in denen die Holzhäuser so angemalt sind, als wären sie aus Backstein. Eine potemkinsche Stadt, die den Stempel einer fremden Kultur trägt und deren Wörter die Einheimischen nicht aussprechen können.
In Puschkins Gedicht wird St.Petersburg von einem verheerenden Hochwasser verwüstet – das geschah auch in Wirklichkeit viele Male – und die Stadt droht in der Sintflut unterzugehen. Als wäre sie niemals berechtigt gewesen, sich entgegen der göttlichen Gesetze aus diesem Sumpfland zu erheben.
Ein kleiner Beamter verliert in den Fluten seine Geliebte – und mit ihr seinen Verstand. Er verflucht das Denkmal des grossen Zaren, dem er die Schuld an der Tragödie gibt.
Doch dieses erwacht plötzlich zum Leben und verfolgt vor Zorn rasend den kleinen Beamten, hetzt ihn die ganze Nacht lang durch die gespenstisch leeren Strassen der Stadt.
St.Petersburg wird in Puschkins Gedicht in einen Ort ständiger Bedrohung verwandelt. In einen gefährlichen Ort, hinter dessen Fassade sich sein dämonischer Erbauer versteckt und die Bewohner in den Wahnsinn treibt.
St.Petersburg ist in den Jahrzehnten nach seiner Gründung eine reine Garnison- und Beamtenstadt. Das Gewicht des Daseins wird in erster Linie durch die Rangtabelle des zaristischen Hofes bestimmt. Eine der Reformen Peters des Grossen, der den alten Erbadel – die Bojaren – damit endgültig entmachtete und die Laufbahnen in Staatsverwaltung und Militär in 14 Rangklassen aufteilte. Deshalb übernehmen auch in Nikolaj Gogols Erzählungen die kleinen Beamten die Hauptrolle.
Der Kollegienassessor Kowaljow wacht in der Geschichte «Die Nase» eines Tages ohne das titelgebende Riechorgan auf. Da, wo es vorher sass, ist nichts weiter als eine glatte Fläche. Er schämt sich, schliesslich gehöre es sich ganz und gar nicht, so ohne Nase herumzulaufen.
Er verdeckt die leere Stelle im Gesicht mit einem Tuch, als er plötzlich seine Nase auf der Strasse trifft, wie sie durch die Stadt kutschiert wird. Sie trägt die Uniform eines Staatsrates. Sie hat ihn in der Zwischenzeit also um vier Ränge überholt. Kowaljow stellt sie zur Rede:
Die Nase runzelt die Stirn und antwortet:
Bei Gogol sind die St.Petersburger also auch verrückt. Sie finden sich in dieser gekünstelten Stadt nicht mehr zurecht. Und auf der Suche nach ein bisschen Innerlichkeit finden sie höchstens ihre davongelaufene Nase. Wenn nichts mehr einen Sinn ergibt, so muss man eben in die Absurdität fliehen.
Dostojewski beschreibt 1866 in seinem grandiosen Roman «Schuld und Sühne» schon ein anderes St.Petersburg. Ein industrialisiertes, in dem die sozialen Unterschiede weit auseinander zu klaffen beginnen und wo die Armut in allen Ecken der Stadt lauert. Der Prunk scheint vollends verschwunden zu sein. Sein Held Raskolnikow spaziert mit einem krempenlosen Hut durch dunkle, dreckige Hinterhöfe zum Heumarkt, wo sich das Lumpengesindel aufhält. Es ist die Kehrseite der imperialen Stadt – und sie stinkt.
Raskolnikow muss sein Jurastudium aufgeben, es ist kein Geld mehr da. Und so versteigt er sich in die Idee, eine alte Wucherin zu töten und ihr Geld zu stehlen. Schliesslich sei sie «nicht besser als eine Laus». Und er – so glaubt er in seinem Wahn – sei zu Höherem berufen, eine Art Napoleon, ein Machtmensch, der sich über die Gesetze der Normalsterblichen zu stellen vermag. Mit einer Axt spaltet er den Schädel der Alten.
Die Revolution, die rund 40 Jahre nach dem Erscheinen von Dostojewskis Roman über Russland rollte, sollte die kleinen Leute endlich aus ihrem Elend befreien. Am 22. Januar 1905 begaben sich Zehntausende von Arbeitern vor den Winterpalast, der Residenz des Zaren. Friedlich demonstrierten sie für menschenwürdige Bedingungen in den Betrieben, für Agrarreformen und die Schaffung einer Volksvertretung. Doch bis zu Nikolaus II. drangen sie nicht vor. Die Soldaten schossen vorher in die Menschenmenge.
Der Erste Weltkrieg verschlechterte die Lage bis zum Unerträglichen. Und während das russische Volk hungerte, sass die Zarenfamilie in Zimmern wie diesen:
Nikolaus II. musste abdanken. Er wurde mitsamt seiner Familie gefangen gesetzt. Schliesslich gelangte Lenin zur Überzeugung, dass ein unschuldiger Zar die Richtigkeit der Revolution in Frage stellen würde. Und so wurde beschlossen, sie alle hinzurichten.
In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 war es so weit. Die Gefangenen wurden von Männern der Tscheka in den Keller geführt. In zwei Reihen sollten sie sich aufstellen, für ein Foto, hiess es. In Moskau ginge nämlich das Gerücht, die Zarenfamilie sei geflohen.
Dann schossen die elf Männer alle gleichzeitig auf ihre Zielpersonen. Der Zar starb sofort, ebenso seine Frau Alexandra, deren Tochter Olga, der Leibarzt, der Koch und der Lakai. Der Zarewitsch Alexei und seine drei Schwestern Maria, Anastasia und Tatjana lagen schwer verletzt am Boden. Die Kugeln prallten an den Zarenkindern ab, weil die Kammerdienerin Demidowa vorher den Familienschmuck in ihre Mieder eingenäht hatte und nun mit einem ebenso wertvoll gefüllten Kissen versuchte, die Schüsse abzuwehren. Das ganze Abschlachten dauerte zwanzig Minuten, am Ende stachen die Mörder mit ihren Bajonetten zu.
Ihre nackten Leichen wurden in einem Wald nahe von Jekaterinburg in einen Bergwerksschacht geworfen. Doch die Spuren sollten noch besser verwischt werden, also holte man sie am nächsten Tag wieder heraus, verbrannte zwei von ihnen und überschüttete die Gesichter der anderen mit Schwefelsäure.
90 lange Jahre dauerte es, bis das Rätsel um ihre Ermordung restlos aufgeklärt war. Unzählige Anastasias tauchten bis dahin auf und sie alle beteuerten, ihnen sei in der Mordnacht die Flucht gelungen.
Dostojewski schreibt noch mehr über die russische Seele. Breit wie sie sei, neige sie auch ausserordentlich zum Phantastischen. Und vielleicht ist das dieses Wundersame, Brutale und Düstere, das Grosse und Verrückte, das Russland ausmacht.