Was für eine paradoxe Situation: Dieser Mann war weltweit bekannt, aber niemand kannte seinen Namen. Medien auf dem ganzen Planeten berichteten über ihn, aber das konnte er nicht wissen. Nun ist der mysteriöse Urwaldbewohner gestorben – und nimmt das Geheimnis seines Lebens mit ins Grab.
Der ungefähr 60-jährige Mann lebte seit Jahrzehnten völlig allein und isoliert im Amazonas-Regenwald im brasilianischen Bundesstaat Rondônia, nahe an der Grenze zu Bolivien. Sämtliche Versuche, ihn zu kontaktieren, schlugen fehl – er machte jeweils unmissverständlich klar, dass er jeden Annäherungsversuch als feindseligen Akt betrachtete. Wer ihm zu nahe kam, wurde mit Pfeilen beschossen. Lebensmittel, die man ihm als Geschenk hinlegte, verschmähte er konsequent. Dennoch – oder gerade deswegen – faszinierte der «Índio Tanaru» («Indio von Tanaru») die brasilianischen Aktivisten, die an seinem Schicksal Anteil nahmen.
Dieses Schicksal war geprägt von furchtbaren Geschehnissen, die exemplarisch für all dies stehen können, was indigenen Gemeinschaften im Amazonas-Gebiet und anderswo widerfahren ist. Der Índio Tanaru lebte nicht freiwillig allein; er war der letzte Überlebende eines Stammes von Indigenen, die in den 1980er-Jahren allesamt umkamen – vermutlich getötet von Bauern oder Viehzüchtern, die illegal auf das Stammesgebiet vordrangen. Sie sollen den Indios zuerst Zucker hingelegt haben, und später dann, als sie so das Vertrauen der Ureinwohner gewonnen hatten, Rattengift.
Bezeichnungen für den Índio Tanaru wie der «Letzte seines Stammes», der «letzte Überlebende» oder der «isolierteste Mann auf dem Planeten» waren daher nicht aus der Luft gegriffen. Und sein extremer Argwohn gegenüber allen Nichtindigenen erscheint vor diesem Hintergrund nur allzu verständlich. «Nachdem er schreckliche Massaker und Landinvasionen erlitten hatte, war die Ablehnung des Kontakts mit Aussenstehenden seine beste Überlebenschance», stellt die Aktivistin Sarah Schenker von Survival International gegenüber dem «Guardian» fest. Survival International ist eine Nichtregierungsorganisation, die indigene Völker weltweit unterstützt.
Seit dem Massaker, dem seine Verwandten und Freunde zum Opfer fielen, lebte der Índio Tanaru völlig allein, stets auf der Hut vor Eindringlingen. Und seit 1996, ohne sein Wissen, nach Möglichkeit beschützt durch die Mitarbeiter der Fundação Nacional do Índio (Funai), der brasilianischen Behörde, die für den Schutz von traditionell von indigenen Völkern bewohnten und genutzten Gebieten zuständig ist. So auch für die 8070 Hektar grosse Terra Indígena Tanaru, in der der isolierte Mann lebte, und die speziell für ihn eingerichtet wurde. Sie bildet eine Regenwald-Insel in einem Meer von Viehzucht-Farmen und muss, wie andere solche Gebiete, vor unbefugten Eindringlingen geschützt werden.
Von denen gibt es in Rondônia mehr als genug – landhungrige Viehzüchter zögern nicht, ihre Waffen einzusetzen, was dem Bundesstaat den wenig schmeichelhaften Ruf als «Peng-Peng-Bundesstaat» eingebracht hat. Dem Índio Tanaru ist es offenbar jahrzehntelang gelungen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Aber auch die Funai-Mitarbeiter, die den Mann unterstützen, indem sie etwa Werkzeuge wie Äxte oder Schaufeln im Wald zurücklassen, liess der einsame Waldbewohner nicht zu nah an sich heran – einer von ihnen wurde sogar einmal von einem Pfeil verletzt.
Aus diesem Grund weiss man nur sehr wenig über den Mann. Man weiss etwa, dass er während den 26 Jahren, in denen er von der Funai beobachtet wurde, mindestens 53 Hütten aus Ästen und Palmblättern baute. Alle diese Behausungen haben jeweils nur eine Tür und in allen grub er jeweils tiefe Löcher. Warum er dies tat, ist nicht klar – vielleicht nutzte er sie als Versteck, als Falle oder, wie manche meinen, für spirituelle Zwecke.
Jedenfalls verdankt er dieser Tätigkeit den Spitznamen «Índio do Buraco» («Indio des Lochs»). Auf eigens angelegten kleinen Lichtungen im Dschungel baute er Maniok und Mais an; zu seiner Ausrüstung gehörten Pfeilspitzen und Wasserkrüge. Wie sein Name oder der Name seines Volkes lautete, weiss niemand – auch nicht, welche Sprache diese Menschen sprachen.
Nun hat ein Funai-Mitarbeiter die Leiche des Mannes gefunden. Er lag auf einer Hängematte; um ihn herum waren bunte Federn drapiert. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass er seinen Tod nahen fühlte und sich darauf vorbereitete. Polizeibeamte sicherten darauf den Ort, an dem er starb und sammelten Spuren. Die Leiche soll zudem obduziert werden.
Mit dem Índio Tanaru ist ein weiterer indigener Stamm erloschen. Wobei «erloschen» den Sachverhalt nicht präzise beschreibt – oder wie es Sarah Schenker von Survival International formuliert:
Indigene Organisationen schätzen die Zahl der verbleibenden Stämme laut dem «Guardian» auf 235 bis 300. Eine genaue Zahl ist allerdings kaum zu ermitteln, da einige der Stämme äusserst zurückgezogen leben und wenig Kontakt zu Nichtindigenen pflegen. Schätzungsweise 30 indigene Gruppen, über deren Sprache, Kultur und Zahl praktisch nichts bekannt ist, leben tief im Regenwald des Amazonas. (dhr)
Fälle in denen Fremdenfeindlichkeit ausnahmsweise mal sehr sinnvoll ist.