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Utopische Neuordnung Europas – diese Karten wurden nie Realität

Wie eine Pizza aufgeteilt: Diese utopische Karte sollte Europa den Frieden bringen

01.10.2023, 20:4201.10.2023, 22:44
Daniel Huber
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Der Erste Weltkrieg, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, vernichtete nicht nur Millionen von Leben und gigantische materielle Werte, er erschütterte auch das Selbstverständnis des europäischen Bürgertums und zerstörte manche vermeintlichen Selbstverständlichkeiten. Die überkommene Ordnung der Dinge büsste an Legitimität ein, hatte sie doch diesen verheerenden Krieg nicht verhindern können.

Neue Wege, neue Gedanken waren gefragt. Utopien hatten Konjunktur, gerade auch im Bereich der politischen Ordnung. So sollte etwa der 1920 gegründete Völkerbund – die Vorläuferorganisation der UNO – den Frieden in Europa dauerhaft sichern. Auf der politischen Linken hoffte man nach der Machtergreifung der Bolschewiki in Russland auf die Weltrevolution.

Coudenhove-Kalergis «Paneuropa»

Doch auch in eher konservativen Kreisen gediehen utopische Pläne zur Umgestaltung der europäischen Staatenwelt. Einflussreich war besonders der Vorschlag eines «Paneuropas» von Richard Coudenhove-Kalergi. Der österreichische Adlige, der nach dem Ersten Weltkrieg die tschechoslowakische und später auch die französische Staatsbürgerschaft erhielt und in Gstaad begraben ist, empfand den Weltkrieg «als Bürgerkrieg zwischen Europäern: als Katastrophe erster Ordnung». 1923 gab er die Schrift «Paneuropa» heraus, die die Vereinigung der europäischen Staaten propagierte.

Seine 1924 gegründete Paneuropa-Bewegung, die von zahlreichen prominenten europäischen Politikern – etwa dem französischen Aussenminister Aristide Briand und dem österreichischen Bundeskanzler Ignaz Seipel – unterstützt wurde, gilt als älteste noch bestehende europäische Einigungsbewegung und als Vorläufer der Europäischen Union. Sie fusste ausdrücklich auf einem christlichen Wertefundament und sollte weitere innereuropäische Konflikte zwischen Frankreich und Deutschland verhindern, ein Gegengewicht gegen die aufstrebende Wirtschaftsmacht USA bilden sowie dem Bolschewismus ein geeintes, konservatives Europa entgegenstellen.

Flagge der Paneuropa-Union bei ihrer Gründung 1922
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7540432
Flagge der Paneuropa-Union bei ihrer Gründung.Bild: Wikimedia/Ssolbergj

Coudenhove-Kalergis «Pan-Europa», das er oft als «Vereinigten Staaten von Europa» bezeichnete, sollte aus 26 Nationalstaaten in Kontinentaleuropa sowie aus deren Kolonien in Afrika, Südostasien und Südamerika bestehen. Die Einigung Europas hätte dergestalt die weitere Ausbeutung der Kolonien gewährleistet. Das Vereinigte Königreich konnte nach Coudenhove-Kalergis Auffassung kein Teil dieser Paneuropa-Union werden, da das British Empire ein eigenständiges Weltreich darstelle. Auch die überwiegend in Asien gelegene Türkei sollte nicht dazugehören.

Richard Coudenhove-Kalergis Vorschlag einer Einigung Europas: Pan-Europa, 1923.
Pan-Europa sollte nicht nur die Staaten Kontinentaleuropas westlich von Russland umfassen, sondern auch deren Kolonien in Afrika, Südostasien und Südamerika. Neben Pan-Europa bestehen nur wenige politische Grossräume: das Britische Weltreich, Panamerika (die USA und Lateinamerika), Russland und Ostasien. Karte: gemeinfrei

«Die Unionisierung Mitteleuropas! Ein Wegweiser zum Dauerfrieden»

Wesentlich bizarrer als Coudenhove-Kalergis Vorstellungen mutet der Vorschlag zur Neuordnung Europas eines gewissen P. A. M. an, den er 1920 in seinem Werk «Die Unionisierung Mitteleuropas! Ein Wegweiser zum Dauerfrieden» in die Runde warf. Der Autor wurde nie eindeutig identifiziert; vermutlich handelt es sich um einen Sohn von Otto Maas, dem in Wien ansässigen Drucker des 24 Seiten umfassenden Pamphlets.

Schnell geht P. A. M. auf die 1919 in den Pariser Vororten geschlossenen Friedensverträge ein, die den Kriegszustand zwischen der Entente und den geschlagenen Mittelmächten beendeten – hauptsächlich der Versailler Vertrag mit dem Deutschen Reich und der Vertrag von Saint-Germain mit Österreich. Der Autor klagt:

«Glaubt denn wirklich jemand ernsthaft, dass die Folgen der bisherigen Friedensverhandlungen den ewigen Frieden gesichert haben? Glaubt wirklich jemand ernsthaft, dass die Rache der einzelnen Völker durch die Folgen der bisherigen Friedensverhandlungen befriedigt worden ist?»

In der Tat brachten die Pariser Vorortsverträge nicht den erhofften Frieden – nur 20 Jahre später sollte ein neuer Weltkrieg das gebeutelte Europa verwüsten. Ob freilich das utopische Konstrukt, das P. A. M. vorschwebte, wirklich einen weiteren Krieg in Europa verhindert hätte, ist doch sehr fraglich.

Viel mehr darf aber noch bezweifelt werden, ob diese radikale Neuordnung Mitteleuropas jemals auch nur die geringste Chance auf Verwirklichung gehabt hätte. Sie missachtete nämlich jegliche historische Gewachsenheit der europäischen politischen Entitäten und brach mit nahezu sämtlichen überkommenen Vorstellungen der politischen Gliederung eines Staatswesens. Wie der Autor selbst es ausdrückte:

«In meinem Projekt werden die Nationalstaaten zwar zerrissen, aber sie werden gleichsam unter ein Dach gebracht, indem Unterregionen geschaffen werden, in denen alle Nationen durch oder mit der Zeit verschmolzen werden, eine neue menschliche Natur aus allen guten und edlen Seiten jeder jetzigen Nation entsteht, in der nicht wie bisher der Rassenhass, sondern die Liebe der Menschen vorherrscht und so allen, die zu einer einheitlichen Nation gezählt werden, Glück und Segen beschert.»

Wie sich P. A. M. diese Zerreissung der Nationalstaaten und das gemeinsame Dach für die neu geschaffenen Unterregionen vorstellte, veranschaulicht die dem Pamphlet beigelegte Karte:

PJM_2104_01d, 9/20/16, 12:35 PM, 8C, 5374x2675 (444+58), 100%, Repro 2.2 v2, 1/20 s, R73.2, G50.0, B66.8
Die im Original 60 mal 80 Zentimeter grosse Karte lag dem 1920 erschienenen Pamphlet «Die Unionisierung Mitteleuropas! Ein Wegweiser zum Dauerfrieden» bei. Sie gliedert einen um Wien zentrierten mitteleuropäischen Staat in 24 Kantone. Die Flächenfärbung illustriert die Verteilung der «Nationen» in Europa. Karte: gemeinfrei

Der künftige Einheitsstaat umfasst Frankreich, die Benelux-Länder, Deutschland, Norditalien, die Schweiz, Österreich, Tschechien, die Slowakei, Polen, den südlichen Teil der baltischen Länder, westliche Gebiete von Belarus und der Ukraine, Ungarn, Rumänien, Moldawien sowie den nördlichen Teil Jugoslawiens. Die Iberische Halbinsel, Grossbritannien und Irland, die skandinavischen Länder, Russland, die Türkei und Griechenland gehören nicht dazu, ebenso wenig wie der grösste Teil Italiens, Albanien, Serbien und Bulgarien.

Flagge des Einheitsstaats
Die Flagge des propagierten Einheitsstaates. Bild: gemeinfrei

Bemerkenswert: Ein bedeutender Teil von Italien soll dem Kirchenstaat zugeschlagen werden. Die Zugänge zum Mittelmeer – also die Meerenge von Gibraltar und der Suezkanal – sollen neutrale Gebiete bilden. Dasselbe gilt für die Dardanellen und den Bosporus, die Zugänge zum Schwarzen Meer. Griechenland umfasst auch Sizilien und Kalabrien, während Sardinien zu Spanien gehören soll. Ins Auge fällt auch das sogenannte Hebräische Reich in Palästina.

Mutet diese politische Einteilung Europas schon höchst abenteuerlich an, ist dies bei der inneren Gliederung des Einheitsstaats noch weit mehr der Fall. Er soll aus 24 Kantonen bestehen, die allesamt langgestreckte, schmale Sektoren eines enormen Kreises darstellen, in dessen Zentrum der Stephansdom in Wien liegt. Ein kreisförmiges Gebiet um Wien soll nicht zu den Kantonen gehören, sondern das Territorium der «Unionshauptstadt Sankt Stephan» bilden.

Unionshauptstadt Sankt Stephan
Die «Unionshauptstadt Sankt Stephan» soll zu einer Gartenstadt ausgebaut werden. Karte: gemeinfrei

Die 24 Kantone, die die Form eines Tortenstücks oder eines Pizza-Slice aufweisen, sind alle nach einer bedeutenden Stadt benannt, die innerhalb ihres Gebiets liegt und zugleich dessen Hauptstadt bildet. Der überwiegende Teil der Schweiz würde demnach zum «Kanton Genève» gehören, der auch österreichische und süddeutsche Gebiete umfassen würde und dazu bedeutende Teile Zentral- und Südwestfrankreichs.

PJM_2104_01d, 9/20/16, 12:35 PM, 8C, 5374x2675 (444+58), 100%, Repro 2.2 v2, 1/20 s, R73.2, G50.0, B66.8
Meeranschluss für die Schweiz: Der «Kanton Genève» stösst in Südwestfrankreich an den Atlantischen Ozean.Karte: gemeinfrei

Die seltsame keilförmige Gliederung soll einen Zweck erfüllen: Sie soll dafür sorgen, dass die traditionellen Streitigkeiten zwischen den europäischen Völkern «gelöst und für immer begraben werden». Gemäss den Vorstellungen des Autors wären in der gesamten Union nur vier «Nationen» anerkannt, nämlich Romanen, Germanen, Slawen und Magyaren (Ungarn).

«Jede dieser Nationen, mit Ausnahme der letzteren, ist in verschiedene Völker unterteilt, die alle demselben Stamm der Nation angehören. Die Romanen findet man in Frankreich, Italien, Rumänien – die Germanen in Preussen, Bayern, Holland, Sachsen, Österreich, Tirol usw. – die Slawen in Polen, der Tschechoslowakei, Mähren, Ruthenien, Kroatien, Serbien usw.»

In jedem der Kantone sollen Angehörige von mindestens zwei Nationen leben – im «Kanton Genève» also Germanen und Romanen. Dies verhindert nach Ansicht des Verfassers, dass sie gegeneinander Krieg führen können.

Friedenskarte Europas, 1920
Die Zeichenerklärung der Karte listet die vier Nationen des Einheitsstaats auf. Gezeigt werden hier auch vier Beispiele von Kantonsflaggen. Bild: gemeinfrei

Das Amt des Präsidenten des Einheitsstaates soll unter diesen vier Nationen rotieren. Die Amtsdauer beträgt drei Jahre. Wahlberechtigt sind alle Personen über 20 Jahre – mit einer äusserst merkwürdigen Ausnahme: Verheiratete Frauen sollen kein Wahlrecht besitzen.

Um den Zusammenhalt zu fördern und die interne Kommunikation zu erleichtern, soll die Plansprache Esperanto als neue Einheitssprache eingeführt werden:

«Unmittelbar nach der Gründung des Einheitsstaates müssen alle Lehrer Kurse besuchen, die auf das schnelle und gründliche Erlernen dieser universellen Sprache abzielen … Die Hälfte der verfügbaren Unterrichtszeit müsste für das Esperanto-Grundstudium, die andere Hälfte für die Fächer und die Muttersprache verwendet werden.»

Dem Verfasser P. A. M. musste wohl klar sein, dass sein utopischer Vorschlag nicht unbedingt Stürme der Begeisterung hervorrufen werde. Am Ende seines Pamphlets räumt er ein:

«Manchem Leser mag dieses Werk als das Ergebnis einer überreizten Phantasie erscheinen; eines Tages, wenn auch spät, wird die Erkenntnis der Wahrheit die Oberhand gewinnen, und vielleicht wird vieles, was ich hier angeregt habe, verwirklicht werden. Das wäre der schönste Lohn für meine ganz selbstlose, lange und aufwendige geistige Arbeit. … Ich habe meinen Namen, meinen Beruf und meine Rolle als Autor und Herausgeber dieses Friedenswerkes einem Notar mitgeteilt, und es wird erst dann veröffentlicht werden, wenn die vier wichtigsten Nationen der Union ihr Urteil öffentlich abgegeben haben.»

Die «vier wichtigsten Nationen der Union» gaben aber bis heute kein öffentliches Urteil über das Machwerk ab – wie denn auch, gab und gibt es doch gar keine Institution, die in deren Namen sprechen könnte. So ist denn auch der Name des Autors nie öffentlich bekannt geworden.

Heinekens Europa der Regionen

Der mangelnde Erfolg der vorgeschlagenen Neugliederung Europas durch P. A. M. oder durch Coudenhove-Kalergi hielt andere Hobby-Geografen nicht davon ab, mit neuen Vorschlägen an die Öffentlichkeit zu treten. Ein hübsches Beispiel ist der niederländische Bier-Magnat Alfred («Freddy») Heineken, der 1992 die Aufteilung der EU in 75 Regionen vorschlug. Diese Regionen sollten dann die Vereinigten Staaten von Europa bilden.

Das Projekt, das unter dem Namen «Eurotopia» bekannt wurde, war inspiriert durch den österreichischen Nationalökonomen Leopold Kohr, der die Dezentralisierung sozialer Organisationen und Gruppen auf eine Grösse propagierte, in der Funktion noch möglich ist, aber gleichzeitig den Mitgliedern eine Überschaubarkeit erlaubt.

Heineken beauftragte den Leidener Historiker Henk Wesseling, eine Karte für die Europäische Union zu entwerfen, in der Regionen die Mitgliedsstaaten bilden würden. Diese Regionen hätten eine vergleichsweise geringe Bevölkerungszahl – meist zwischen 5 und 10 Millionen – und eine gewisse Grundlage in der historischen Tradition. Sie würden zudem grösstenteils eine homogene ethnische Zusammensetzung aufweisen.

Eurotopia von Freddy Heineken
https://bigthink.com/strange-maps/386-my-kingdom-for-a-beer-heinekens-eurotopia/
Freddy Heinekens «Eurotopia». Es umfasst nicht nur das Gebiet der EU, sondern viele weitere Staaten Europas, darunter auch die Schweiz.Karte: bigthink.com

Auch Heinekens Vorschlag wurde nie realisiert. Nur schon der Widerstand der grossen EU-Staaten wie Frankreich oder Deutschland gegen ihre Aufteilung in kleinere Entitäten hätte dem Projekt Eurotopia zuverlässig den Garaus gemacht.

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76 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Zappenduster
01.10.2023 22:57registriert Mai 2014
Ein schöner Artikel der einem mal wieder vor Augen führt was für ein riesen Projekt das heutige politische Europa ist. Schade begegnen diesem Projekt soviele Menschen mit Abneigung. Ist Europa perfekt? Absolut nicht. Ist es das beste und friedlichste Europa aller zeiten? Absolut!!
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Unchangeable
01.10.2023 22:01registriert Mai 2023
Wie gut künstlich erdachte Länder mit Lineal-Grenzen funktionieren kann man an verschiedenen Stellen in Afrika beobachten.
1248
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nichtMc
01.10.2023 21:15registriert Juli 2019
Hoffentlich kommt Paneuropa doch noch, dann wäre Bordeaux heimischer Wein! 😍
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Wie Bern und Solothurn beinahe einen Bürgerkrieg anfingen: Der Kluser Handel
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