Plötzlich weisst du es. Weisst: Du bist eine Frau, sie ist eine Frau, wir werden uns küssen. Jetzt. Ihr küsst euch. Und dann?
Ich könnte jetzt behaupten, dass diese Geschichte auch für junge Männer stimmt. Grob tut sie das sicher. Aber die Details müssten an dieser Stelle Männer liefern. Ich weiss nur, wie es ist, wenn man eine junge Frau ist und merkt: Verdammt, ich bin in eine Frau verliebt!
Zufällig ist sie deine Freundin. Zufällig seid ihr beide in einem Alter – sind 18 oder 20 oder 22 – wo noch nichts fest steht im Leben.
Die Freundin anzuschauen, macht dir Freude. Ihr zuzuhören auch. Ihr Haar glänzt, die Haut ist schön, ihr versteht euch blind, ihr steht den ganzen Tag über im Austausch, in Gedanken, kurzen und längeren Botschaften. Ihr wart schon mal in den Ferien zusammen, die Fotos von ihr sind dein liebster Besitz. Ihr reden über «es». Über die Möglichkeit der Liebe zwischen Frauen.
Zunächst bleibt die Möglichkeit bloss theoretisch. Denn es ist nicht so, dass ihr Männer nicht mögt. Ihr seid nur etwas müde, die Differenz der Lebenswelten von Männern und Frauen bedeutet logischerweise Beziehungsarbeit. Zwischen Frauen, habt ihr gelesen, drohe dafür die Symbiose, die Verschmelzung, die Aufhebung von zwei Menschen in einer breiigen Langeweile.
Ihr seid beide nicht als Lesben zur Welt gekommen, ihr seid einfach mitgegangen im Strom der Mehrheit, der da hiess: Mädchen + Jungs + Musik + Parties + Alkohol + Medien + Literatur = Pärchenbildung.
Mit dem Reden über die Theorie wächst die Neugier ins Unendliche. Jedes Wort ist ein weiteres Vortasten, ist Annäherung. Und dann passiert's. Und ist – in diesem fiktiven Fall – nur grossartig. Es ist ganz anders als mit einem Mann. Fühlt sich feiner an, vertrauter, Ich ist die Andere, Ich ist doppelt, ein Traum, ein Trip, etwas psychedelisch, paradiesisch. So schön, dass es fast nicht zu glauben ist. Das zweite erste Mal.
Doch dann kommt die Ernüchterung in Form der Welt. Der Mann, der euch auf der Strasse nachrennt und ruft: «Ich hab noch nie Lesben in der Öffentlichkeit gesehen!» Die Eltern, die euch gemacht haben, weil sie noch nie etwas anderes als eine Familie sein wollten und jetzt ihren Traum von Gesellschaftsfähigkeit und Enkeln akut bedroht sehen. Denen ihr weh tut mit eurer Wahl, ganz egal, was sie behaupten, ganz egal, was die aufgeklärte westliche Welt und ihre Vorzeige-Lesben-Promi-Paare und lesbischen Stadtpräsidentinnen gerade behaupten. Und jetzt?
Jetzt spürt ihr, wie sehr eure Neugier eure alte Welt aus den Angeln zu heben vermag. Wie nichts mehr seine Ordnung hat, ein Freefall-Tower der überwältigenden Gefühle. Ihr seid nun sehr verletzlich. Ihr schaut euch im Internet Länder an, die ihr mit eurer Freundin nicht als Paar besuchen könnt. Unsere Gesetzeslage erscheint euch unfair und lückenhaft.
Ihr fühlt euch jetzt als Minderheit. Neben dem persönlichen Glück schleicht sich der Gedanke der Diskriminiertheit ein. Er ist scheisse.
Entweder entscheidet ihr euch jetzt, das Ganze als Experiment zu nehmen und abzubrechen. Oder ganz locker erstmal beides weiterzuleben – die Sache mit den Frauen UND den Männern –, und abzuwarten, bei welchem Menschen es euch am besten gefällt.
Oder ihr spürt, dass sich nichts richtiger anfühlt als das Neue. Dann braucht ihr jetzt Kraft und Geduld. Nicht mit euren Freunden. Sie sind euch eh freundlich gesinnt. Auch nicht mit euren Arbeitgebern. Vielleicht freuen sie sich sogar, weil sie sich einbilden, dass ihr mal keine Mutterschaftsurlaube und Kinderzulagen braucht.
Gebt euern Eltern Zeit. Erschreckt sie nicht. Fordert nicht sofort alles Verständnis der Welt. Es wird schon kommen. Menschen nehmen Veränderungen nun mal zuerst als Bedrohung wahr, und ihr seid eine Veränderung. Tragt Sorge zu euch und eurer Liebsten. Und wenn euch der Minderheiten-Gedanke mal zu sehr plagen sollte: Seid stolz darauf, ihr seid jetzt sowas wie eine subversive Kraft. Macht was draus!