In der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 stiess die «Titanic», das zu dieser Zeit grösste Schiff der Welt, auf ihrer Jungfernfahrt mit einem Eisberg zusammen und sank. Die Katastrophe, einer der schlimmsten Unfälle der Seefahrt, forderte 1514 Todesopfer und prägt bis heute unsere Vorstellungen über Schiffsunglücke. Kein Wunder, ist der Untergang der «Titanic» immer wieder ein Medienthema. So auch jetzt: Die Analyse eines 3D-Modells hat neue Erkenntnisse zum Hergang des Unglücks erbracht. Insbesondere zeigt die Computersimulation, wie genau das riesige Schiff vom Eisberg beschädigt wurde und warum es bis zum Schluss beleuchtet war.
Für den 3D-Scan hatten Unterwasserroboter der Firma Magellan mehr als 700'000 hochauflösende Bilder vom Wrack der «Titanic» – es liegt in mehr als 3800 Metern Tiefe – aufgenommen. Daraus wurde ein 3D-Modell erstellt, das die Überreste des in zwei Teile zerbrochenen Schiffs erstmals vollständig erfasst. Dieser «digitale Zwilling», den die BBC 2023 exklusiv präsentierte, wurde nun für eine neue Dokumentation von «National Geographic» und «Atlantic Productions» namens «Titanic: The Digital Resurrection» analysiert, wie die BBC am Dienstag berichtete.
Bei ihrer Analyse warfen die Experten ihr Augenmerk vornehmlich auf jenen Teil des Schiffes, in dem sich die Kesselräume befanden. Diese lagen im hinteren Teil des Bugs – an jener Stelle, an der die «Titanic» auseinanderbrach. Die Analyse des 3D-Modells förderte nun bisher unbekannte Details zutage, die sich mit Berichten von Augenzeugen decken, wonach Ingenieure und Arbeiter auf der «Titanic» bis zuletzt dafür kämpften, dass das Schiff beleuchtet blieb.
So zeigt das 3D-Modell, dass einige der riesigen Kessel konkav sind. Das deutet darauf hin, dass sie noch in Betrieb waren, als sie im Wasser versanken. Auf dem Deck des Schiffshecks entdeckten die Experten ein Ventil in geöffnetem Zustand. Dies deute darauf hin, dass noch Dampf in das Stromerzeugungssystem des Schiffes strömte und das Licht bis zum endgültigen Untergang brannte. Dies war laut BBC einem Team unter der Leitung des Chef-Ingenieurs Joseph Bell zu verdanken. Diese Leute blieben demnach an Bord zurück, um weiter Kohle in die Kessel zu schaufeln.
Keiner aus diesem Team überlebte den Untergang der «Titanic». Indem sie bis zum Schluss ausharrten, hätten sie aber viele Leben gerettet, sagte der «Titanic»-Experte Parks Stephenson der BBC. «Sie liessen die Lichter und den Strom bis zum Schluss laufen, um der Besatzung Zeit zu geben, die Rettungsboote sicher bei etwas Licht zu Wasser zu lassen, anstatt in völliger Dunkelheit», führt Stephenson aus. «Sie haben das Chaos so lange wie möglich in Schach gehalten.»
Der Scan zeigt überdies bisher unbekannte Details aus der Nähe, die Licht auf den unmittelbaren Zusammenstoss mit dem Eisberg werfen – etwa ein Bullauge, das höchstwahrscheinlich bei der Kollision eingeschlagen wurde. Auch dies passe zu den Augenzeugenberichten von Überlebenden, wonach Eis in einige Kabinen eindrungen sei, so die BBC.
Ein Forschungsteam um Jeom-Kee Paik vom University College London fertigte zudem eine weitere Computersimulation an, dank der sich der Untergang der «Titanic» besser nachvollziehen lassen soll. «Wir haben fortschrittliche numerische Algorithmen, Computermodelle und Supercomputer eingesetzt, um den Untergang der Titanic zu rekonstruieren», erklärte Paik der BBC.
Zum Mythos der Unsinkbarkeit der «Titanic» trug ihre Konstruktion bei: Sie war in 16 Kammern unterteilt, die sich durch wasserdichte Schotten voneinander abtrennen liessen. Selbst wenn bis zu vier dieser Kammern überschwemmt würden, wäre das Schiff nicht gesunken. Nach der Kollision mit dem Eisberg wurden jedoch sechs Kammern geflutet – der Postraum, drei vordere Abteilungen und der Kesselraum Nr. 6. Dies besiegelte das Schicksal der «Titanic».
Gemäss der neuen Computersimulation wurden möglicherweise so viele Kammern überschwemmt, weil die «Titanic» den Eisberg lediglich streifte, was dazu führte, dass die Schäden punktuell in einer langen, schmalen Linie entlang des Rumpfes verliefen. Zum Teil habe es sich um eher kleine Löcher – von der Grösse einer A4-Seite – gehandelt, erläuterte Simon Benson, Dozent für Schiffbau an der Universität Newcastle, gegenüber der BBC. Doch sie hätten letztlich den Ausschlag für den Untergang des Dampfers gegeben: «Das Problem ist jedoch, dass diese kleinen Löcher über eine lange Strecke des Schiffes verteilt sind, sodass das Flutwasser langsam, aber sicher in all diese Löcher eindringt und die Abteilungen schliesslich von oben überflutet werden und die ‹Titanic› sinkt», stellte Benson fest. (dhr)