Der Unternehmersohn Jakob Ochsner (1858–1926) ist ein weit gereister Mann. Bei seinem Vater, einem Wagner aus dem schaffhausischen Oberhallau, hat er gelernt, Fuhrwerke zu bauen und zu reparieren, doch bald zieht es ihn nach Übersee. In Chicago begreift der junge Ochsner, dass hier nicht nur die Möglichkeiten grenzenlos sind, sondern auch die Probleme: Unvorstellbare Abfallmengen häufen sich in den Strassen und stinken zum Himmel.
Nach sieben Jahren als Wagnermeister in Chicago kehrt Jakob Ochsner zurück, nur um festzustellen, dass sich der Abfall auch in den rasch wachsenden Schweizer Städten zu türmen beginnt. Ochsner verlegt die väterliche Wagnerei nach Zürich – erst als bescheidene Werkstatt in Oberstrass, dann an die Kasernen- und schliesslich an die Müllerstrasse 54/56, wo Wagnerei, Schmiede und Sattlerei unter einem Dach Platz finden.
Abfalltechnisch ist Zürich um die Jahrhundertwende eine fortschrittliche Stadt. Nach einer Choleraepidemie im Sommer 1867, die mehrere Hundert Menschen das Leben gekostet hat, beschliessen die Zürcher Stimmbürger die sogenannte «Kloakenreform».
Flüssiges und Festes werden fortan getrennt – das Schmutzwasser fliesst in eine geschlossene Kanalisation nach Pariser Vorbild, Fäkalien dagegen werden unter an den Häuserfassaden angebrachten Fallrohren in Eimern gesammelt und auf Pferdewagen geleert, die den Dreck abführen, der anschliessend kompostiert und als Dünger an Bauern abgegeben wird. Als 1904 an der Josefstrasse die erste Verbrennungsanlage der Schweiz in Betrieb genommen wird, verfügt Zürich über das modernste Abfallentsorgungssystem Europas.
Und doch ist nicht alles Gold, was glänzt. Die Industrialisierung hat aus dem Vorort Aussersihl das dichteste Ballungsgebiet der Schweiz gemacht. Jeder Haushalt hat seinen eigenen Schmutzkübel, und ein permanenter Gestank wabert durch die Stadt. Nicht wenige befürchten das Auftreten neuer Seuchen. Da besinnt sich Jakob Ochsner auf Methoden, die ihn bereits in den USA beeindruckt haben.
Er konstruiert Transportwagen mit Metallbehältern, deren Schiebeöffnungen exakt in die markanten Klappdeckel der Kehrichtkübel greifen; die Verbrennungsanlage lässt er mit Behältern ausstatten, deren Feuerklappen genau auf die Container passen – eine geschlossene Transportkette vom Haushalt bis zum Brennofen. Einmal im vorschriftsgemäss mit Zeitungspapier ausgekleideten (erst viereckigen, später runden) Kübel, erblickt der Kehricht nie mehr das Tageslicht; das zweimalige Entleeren bleibt nahezu staub- und geruchsfrei. 1908 hält das System Ochsner auf Zürichs Strassen Einzug.
Nach und nach werden die alten Pferdefuhrwerke motorisiert, das Scheppern beim Leeren der Ochsnerkübel zählt bald zum Klangbild der Stadt. Und weil Ochsner nicht nur ein begnadeter Erfinder ist, sondern auch ein Flair für Marketing hat, lässt er auf dem Deckel seiner feuerverzinkten Eimer in aller Unbescheidenheit das Schweizerkreuz anbringen; spätere Modelle werden gar mit den entsprechenden Kantonswappen verziert. 1926, im Todesjahr seines Erfinders, wird der Ochsnerkübel für alle Haushalte der Stadt Zürich obligatorisch.
In Basel wird das System 1931 eingeführt, 1934 geht der erste Basler Ochsner-Kehrichtwagen in Betrieb. Die «Mistkübel», wie sie am Rheinknie heissen, müssen zum Preis von 9.05 Franken von den Haushalten angeschafft werden, eine Summe, die heute rund 150 Franken entspräche. Weil sich nicht alle den teuren Kübel leisten können, bewilligt der Grosse Rat 1933 den Betrag von 33'000 Franken «zur Ausrichtung einmaliger Staatsbeiträge an bedürftige Familien zur Ermässigung der Anschaffungskosten der Einheitskehrichteimer (System Ochsner)». Um Diebstähle und Verwechslungen zu vermeiden, werden die Ochsnerkübel gut sichtbar nummeriert.
1930 wird der legendäre Ochsnerkübel als «Behälter mit Klappdeckel und umlegbarem Tragbügel, zum Beispiel für Müll und dergleichen» von der Jacques Ochsner & Cie. AG patentiert, aus dem «System Ochsner» wird das «Patent Ochsner». Doch «was jung isch, wird alt, was heiss isch, wird chalt, u das passiert viel schneller als me gloubt»: In den 1970er- und 1980er-Jahren wird der Ochsnerkübel vom Abfallsack aus Plastik abgelöst. «Patent Ochsner» ist heute nur noch eine Kindheitserinnerung – und der Name einer Berner Mundartband mit ihren eingängigen Liedern über die Vergänglichkeit.
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