Hätte sie nicht gleich nach der Tat versucht, den Schmuck der Getöteten zu verkaufen, wäre Anna Koch aus Gonten (AI) mit dem Mord wahrscheinlich davongekommen, zumal man zunächst von einem Unfall ausging. Wer hätte auch annehmen können, dass sie, ein hübsches, blondes Mädchen von noch nicht einmal ganz 18 Jahren, aus Eifersucht und Habgier am 7. Juni 1849 Magdalena Fässler, ihre Nebenbuhlerin um die Gunst von Johann Baptist Mazenauer, nach der Fronleichnams-Vesper im unweit der Kirche gelegenen Teich eigenhändig ertränkt hatte? Auch die Zeitungen zeigten sich schockiert über das «weibliche Ungeheuer».
Als der Verdacht auf sie fiel, bezichtigte Anna Koch ihren ehemaligen Schwarm des Verbrechens – denn, wie dieser Jahrzehnte später meinte: Wenn «ein armer, wüeschter Bueb und ein schön, jung Maitli vor Gericht müssen, so lassen sie das schön jung Maitli laufen — und der arm wüescht Bueb wird eingesperrt». Mazenauer, ein Maurer und Kaminkehrer, war eine Zeit lang mit Anna Koch liiert gewesen, doch da diese ihn des Öfteren betrogen hatte, wandte er sich Magdalena Fässler zu, was Koch offenbar, trotz ihres eigenen Verhaltens, tief in ihrem Stolz verletzte. Ausserdem hatte sie sich beim Kauf einer neuen Silberkette für ihre Festtagstracht verschuldet.
Zuerst sagte Koch nur aus, Mazenauer habe den Schmuck Fässlers bei der Toten gefunden und ihr zum Verkaufen gegeben. Dann erweiterte sie ihre Geschichte: Mazenauer habe Fässler getötet, ja er habe ihr den Mordplan schon vor der Tat erklärt. Der 21-Jährige sei ihr Verlobter und sie hätten das Geld gebraucht, um im Herbst heiraten zu können. Zudem gab sie an, von ihm schwanger zu sein.
Das Gericht glaubte Anna Koch und nahm an, dass Johann Baptist Mazenauer bald gestehen würde. Doch da er im «gütlichen Verhör» im Appenzeller Rathaus jede Beteiligung an einem Verbrechen hartnäckig abstritt, griff der Verhörrichter bald zum Mittel der «peinlichen Frage»: Mazenauer wurde auf den Bock gebunden und mit dem Ochsenziemer traktiert. Tagelang. Wochenlang, wie ein Blick ins Verhörprotokoll zeigt:
Während die ebenfalls arretierte Anna Koch zu Hause beim Landweibel wohnte und mit dessen Familie am Tisch essen durfte, kam Mazenauer ins «Verlies», in einen aus Balkenstücken gezimmerten Kasten auf dem Dachboden des Rathauses, in dem er nicht aufrecht stehen konnte und der nur über eine kleine Öffnung zum Durchreichen der Speisen und für etwas Luft verfügte.
Die Appenzeller Behörden gingen nach altem Rechtsverständnis davon aus, dass das Geständnis die «Königin der Beweise» sei, und sein Vorliegen unabdingbar, um jemanden verurteilen zu können – und dass, um ein solches Geständnis zu erhalten, auch die Zufügung körperlicher Schmerzen legitim sei. Tatsächlich war die Folter vom 13. bis ins 19. Jahrhundert in West- und Mitteleuropa ein anerkanntes «strafverfahrensrechtliches Mittel zur Wahrheitsfindung im Verhörprozess».
Für die Bewegung der Aufklärung hingegen wurde die Folter zum Hauptangriffsziel im Kampf um ein humaneres Strafrecht. Die Folter sei einerseits nicht funktional (die Gefangenen gestehen falsche Dinge, nur um den Qualen zu entkommen) und andererseits sei sie mit der Menschenwürde unvereinbar. Die Regierung der Helvetik schaffte zum ersten Mal in der ganzen Schweiz jede körperliche Peinigung zur Erzwingung eines Geständnisses ab.
Allerdings wich man bald auf Prügel als «Ungehorsams- und Lügenstrafen» aus, denn nach wie vor galt der Geständniszwang. Und was zählte überhaupt als Folter? Nur die alten Methoden wie das «Aufziehen» oder die Streckbank? Oder auch Stockschläge während der Verhöre? «Disziplinierende Strafen» wie Prügel und verschärfte Haft wurden, wo die Folter offiziell untersagt war, zu einem «Foltersurrogat».
Nach der Helvetik kehrten die konservativen Landkantone, aber beispielsweise auch Zürich bis zur Regeneration, wieder zur alten Strafrechtspraxis samt Folter in schweren Fällen zurück. Schwyz praktizierte noch 1820 die reguläre Tortur, unter anderem mit der Beifügung von Brandwunden. Und Zug kannte noch 1869 die Daumenschrauben und das «Aufziehen»!
Auch in Appenzell Innerrhoden war die Prügelbank, auf der Mazenauer 1849 leiden musste, noch in den 1860er-Jahren in Gebrauch. Denn es gab etliche Juristen, die befürchteten, dass die Abschaffung der Folter eine Einbusse der Rechtssicherheit und der Effektivität des Strafverfahrens zur Folge haben könnte.
Das konservative Zuger Volksblatt bemerkte 1861 zur Überführung eines Mörders in Schwyz trotzig, dass «Confrontationen» kein Resultat gebracht hätten, wohingegen, allen modernen Anwürfen zum Trotz, «die von Zeit zu Zeit angewandten ‹territiones reales›, diese ‹argumenta ad hominem› ihre alte Wirksamkeit bewährt haben.» Sprich: Wirksamer als eine verbale Konfrontation war laut der Zeitung die Folter.
Diese Ansicht war zu jener Zeit weit verbreitet, denn wenn das Geständnis als oberster Beweis, der unbedingt vorliegen musste, wegfiel, was blieb dann? Worin bestand der neue oberste Beweis? Der Kampf um die Abschaffung der Folter war auch ein Kampf um die Aufwertung des Indizienbeweises im Gerichtsprozess beziehungsweise um die Möglichkeit der freien Beweiswürdigung durch das Gericht, das auch ohne ein Geständnis zu einem Urteil gelangen konnte.
Trotz aller Stockschläge auf der Prügelbank: Johann Baptist Mazenauer bestritt noch immer, irgendetwas mit dem Tod von Magdalena Fässler zu tun zu haben. Als Anna Koch dann plötzlich aus der Gefangenschaft entwich, kamen den Appenzeller Behörden erste Zweifel an ihrer Version der Geschichte. Koch, offenbar gequält vom schlechten Gewissen, floh bis ins vorarlbergische Rankweil, wo sie beichten wollte. Doch der dortige Pfarrer verweigerte ihr die Absolution, solange sie sich nicht öffentlich zu ihrem Verbrechen bekannte.
Anna Koch kehrte daraufhin zurück, stellte sich dem Gericht und gestand nach mehr als fünf Monaten die Tat. «Rache» an Magdalena Fässler sei das Motiv gewesen. Im Protokoll steht dazu Folgendes: «Ist er (Mazenauer) also in der That schuldlos? – Ja, das ist er. – Ihm ist somit die ganze Geschichte unbekannt? – Er wusste nichts. – Warum klagtet Ihr ihn denn an? – Weil er mir lieb war.» Sie habe geglaubt, er würde den Mord «ihr zuliebe» auf sich nehmen.
Das Gericht verhängte am 29. November die Todesstrafe über Anna Koch. Vier Tage später wurde es vom Grossen Zweifachen Landrat von Appenzell Innerrhoden mit 92 zu 6 Stimmen bestätigt. Der Landrat sah keine Milderungsgründe, zumal Koch «mit verwegener Böswilligkeit eine Zeit lang die That geleugnet und mit den ausgedachtesten Lügen auf eine andere Person, nämlich Joh. Baptist Mazenauer wälzen wollte.»
Die Hinrichtung der Anna Koch am 3. Dezember 1849 war ein grausiges Spektakel. Die 18-Jährige wehrte sich in panischer Angst und musste auf den Schlitten gebunden werden, der sie zur Richtstätte führte. Die Verlesung des Todesurteils vor der riesigen Volksmenge ging in ihrem verzweifelten Schreien unter. Da sie auf dem Richtstuhl den Kopf einzog, liess der Scharfrichter schliesslich ihre Zöpfe an eine Latte binden und emporziehen, um sie enthaupten zu können. Ein deutsches Journal bemerkte dazu angewidert:
Es war die letzte Hinrichtung in Appenzell Innerrhoden – und ein lange anhaltendes Trauma. Allein zwei Theaterstücke wurden im 20. Jahrhundert über den Mordfall Koch-Fässler geschrieben. Es gibt auch einen Anna Koch-Jodel.
Mazenauer vergab Koch ihre Missetat an ihm. Auf die Frage des Landrates: «Ihr werdet ihr nichts nachtragen, ihr verzeihen und keinen Regress verlangen?» antwortet er feierlich: «Ich will ihr gerne zeitlich und auf ewig vergeben.» Ohne es zu wissen, hatte Mazenauer mit dieser Aussage auf Schadenersatz durch den Kanton verzichtet – was ein «Regress» ist, war ihm unbekannt.
Als wäre die Folter nicht genug gewesen, haben die Appenzeller Behörden ihn als krönenden Abschluss auch noch betrogen. «Dies nennt man im Kanton Appenzell I. Rh. Kriminalverfahren», meinte die St. Galler Zeitung sarkastisch dazu.
Dass solche rechtlichen Zustände auch im jungen Bundesstaat noch möglich waren, war eine Folge der rein kantonalen Regelung des Strafrechts. Viele der konservativen Kantone verfügten noch lange über keine geschriebene Strafprozessordnung; Appenzell Innerrhoden verfuhr noch 1897 ausschliesslich nach alter Herkunft. Erst 1942 gab es erstmals ein gesamtschweizerisches Strafrecht. Körperstrafen wurden zwar schon 1874 durch die Bundesverfassung verboten, aber als Disziplinarmassnahmen dürften sie wohl noch jahrzehntelang hie und da vorgekommen sein.
Johann Baptist Mazenauer hat sich von den Folgen der Misshandlungen während seiner 24 Wochen in Gefangenschaft nie mehr ganz erholt. Sein ganzes restliches Leben hatte er mit chronischen Schmerzen und anderen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Er starb im Alter von 74 Jahren 1902 in Gonten.
Bei diesen Methoden wurde sicher manches arme Knechtli mit Folter zu einem Geständnis getrieben, obwohl es alle wussten oder ahnten, dass es ganz jemand anderes gewesen war.
Aber wer klagt schon den Ratsherr oder reichen Bauer an, schliesslich waren das ehrbare und gottesfürchtige Männer in den katholischen Kantonen.
Dann doch lieber mit dem Genderstern leben.