Die Zahl der jungen psychisch kranken Frauen und Männer, die eine IV-Rente benötigen, hat in den letzten zehn Jahren nicht abgenommen – obwohl der Trend bei den neu ausgesprochenen Renten insgesamt in die andere Richtung zeigt.
Bis zu einem Drittel der Renten seien vorschnell gesprochen worden, schreibt Niklas Baer, Erstautor einer aktuellen Studie.
Der Psychologe und Leiter Fachstelle psychiatrische Rehabilitation der Psychiatrie Baselland findet diese Entwicklung alarmierend und sagt: «Die Prognosen von IV-Stelle und Ärzten sind oft zu pessimistisch.» Bis zu einem Drittel der Renten würden zu früh gesprochen.
Vorher sollten intensive Bemühungen unternommen werden, die betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Dies könnte sich finanziell lohnen, heute beziehen rund 13'000 Personen mit psychischen Erkrankungen im Alter von 18 bis 30 Jahren IV-Renten. Die Kosten belaufen sich laut Baer auf rund eine halbe Milliarde pro Jahr.
Herr Baer, «einmal IV, immer IV» gelte insbesondere bei psychisch kranken Menschen auch heute noch, sagen Sie. Warum?
Niklas Baer: Theoretisch müsste das nicht so sein. Alle zwei bis fünf Jahre wird überprüft, ob eine Rente weiterhin nötig ist. Doch faktisch sind die Weichen bis zur Pensionierung gestellt. Nur ein Prozent der psychisch kranken Personen schaffen pro Jahr den Sprung raus aus der IV. Je länger sie auf die Rente angewiesen sind, desto schwieriger wird ein Leben ohne sie.
Gilt dies auch für die unter 30-Jährigen, die noch ihr ganzes Berufsleben vor sich haben?
Die Daten zeigen, dass die grosse Mehrheit der jungen Bezüger ebenfalls nicht mehr aus der IV rauskommt – und dies, obwohl die meisten gerne arbeiten würden.
Entgegen dem Trend zu weniger neuen Renten bleibt die Zahl der jungen Erwachsenen konstant, die wegen psychischer Leiden auf IV-Leistungen angewiesen sind. Warum?
Darauf gibt es keine klare Antwort. Was hingegen sicher ist: Es gibt heute nicht mehr psychisch kranke Junge als früher. Verändert haben sich hingegen Bewusstsein und Umgang. Deshalb werden die Krankheiten früher und häufiger diagnostiziert, mehr Betroffene behandelt.
Dass mehr Betroffene eine Behandlung erhalten, ist doch positiv.
Ja, aber das allein reicht nicht. Eingliederung und Integration hinken der Entwicklung hinterher. Holen wir in diesem Bereich nicht auf, wird sich das Phänomen der jungen IV-Rentner weiter verschärfen. Eine Trendumkehr jedenfalls erwarte ich in naher Zukunft nicht.
Der Fokus liegt seit einiger Zeit auf der Wiedereingliederung der Betroffenen. Reicht das nicht?
Unsere Studie zeigt, dass viele junge Leute eine IV-Rente erhalten, obwohl nur wenige oder gar keine Versuche zur Integration stattgefunden haben. Das ist ein Fehler. Gerade bei Menschen in diesem Alter bräuchte es mehrere Anläufe. Wer psychisch krank ist, benötigt Zeit, um sich stabilisieren zu können.
Die Geduld fehlt?
Die Prognosen, die IV-Stellen und Ärzte erstellen, sind oft zu pessimistisch. Man gibt zu früh auf und den Betroffenen zu wenig Zeit. Dabei wäre bei rund einem Drittel der jungen IV-Rentner durchaus das Potenzial da, um zu arbeiten. Wie viele diesen Schritt letztlich schaffen, ist dann wieder eine andere Frage.
Wie häufig gelingt es, Personen mit IV-Renten im ersten Arbeitsmarkt zu integrieren?
Fundierte Daten fehlen noch. Fest steht aber: Das Ziel der 6. IV-Revision, bis 2017 17'000 Rentner einzugliedern, wird deutlich scheitern. Bisher ist dies erst in ein paar hundert Fällen gelungen. Und klar ist auch, dass die Erfolgsquote bei psychischen Krankheiten deutlich geringer ausfällt als bei körperlichen Beschwerden.
Wieso ist die Integration von psychisch Erkrankten so schwierig?
Das hat mehrere Gründe. Einerseits sieht man die Krankheiten nicht, was sie für die Chefs und Arbeitskollegen schwer einschätzbar machen. Dadurch ist auch die Hemmung grösser, jemanden anzustellen. Andererseits sind die Eingliederungsmassnahmen oft zu wenig auf die Art der psychischen Erkrankung ausgerichtet. Diese teils mangelnde Professionalität hat auch damit zu tun, dass die behandelnden Ärzte zu wenig in die Integrationsbemühungen eingebunden sind. Dazu kommen Vorurteile gegenüber psychischen Krankheiten, aber auch die Eigenheiten der Patienten, die verunsichert sind, Versagensängste haben und Integrationsschritte vermeiden.
Eine zentrale Rolle kommt den Arbeitgebern zu. Nehmen sie ihre Verantwortung wahr?
Die meisten Betriebe sind engagiert, wollen ihren Mitarbeitern helfen. Doch viele sind überfordert. Die meisten Chefs reagieren zu spät und zögerlich, sie getrauen sich nicht, das Thema offen anzusprechen. Obwohl seit 2008 die Möglichkeit der Frühintervention besteht, melden kaum Unternehmen gefährdete Mitarbeiter bei der IV.
Die nächste Revision der IV steht bevor. Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf?
Das Mindestalter für eine IV-Rente sollte auf 30, wenn nicht gar 40 Jahre angehoben werden. Das zwänge alle Beteiligten, mehr in die Eingliederung zu investieren und länger durchzuhalten. Damit würde den Jungen ein positives Signal ausgesendet: Wir wollen, dass ihr arbeiten könnt und in absehbarer Zeit keine Rente benötigt. Das erhöhte Mindestalter dürfte aber nicht einfach zu einer Verschiebung in die Sozialhilfe führen und nicht für Personen mit schwersten Beeinträchtigungen gelten.
Bei der IV geht es immer auch um viel Geld. Wie viel kosten die Renten für die psychisch kranken 18- bis 30-Jährigen?
Rund 13'000 Personen aus dieser Altersgruppe beziehen IV-Renten. Die Kosten belaufen sich – rechnet man die kantonalen Ergänzungsleistungen dazu, die nötig sind, weil die IV-Beträge häufig nicht zum Leben reichen – auf grob geschätzt eine halbe Milliarde pro Jahr. Etwa zwei Drittel der Renten werden wegen psychischer Krankheiten ausbezahlt. Dazu kommt: Arbeiten würde den Betroffenen wegen sozialen Kontakten und festen Tagesstrukturen helfen. Fällt das weg, werden Behandlungsaufwand und Folgekosten grösser.