
Mit dem Zahnrad den Berg hinauf
Inspiriert von Reiseberichten, Romanen und Gemälden zog es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr Reisende in die Schweiz. Der Ausbau des Schienennetzes trug wesentlich zum Aufschwung des Tourismus bei, doch für das Erklimmen von Berggipfeln eigneten sich die üblichen Eisenbahnen, sogenannte Adhäsionsbahnen, offensichtlich nicht. Eine der steilsten Bahnstrecken jener Zeit, die 1858 eröffnete Hauensteinstrecke zwischen Olten und Basel, wies lediglich eine maximale Steigung von 2,6 % auf. Ingenieure und Erfinder zerbrachen sich den Kopf über geeignete Lösungen.
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Für Aufsehen erregte 1858 der Winterthurer Architekt Friedrich Albrecht: Er schlug vor, die Touristinnen und Touristen mit einem wasserstoffgefüllten Ballon auf die Rigi zu befördern, der über eine Schienenkonstruktion am Boden gelenkt werden sollte. Letztlich war es Niklaus Riggenbach (1817–1899), dem mit der sogenannten «Leiterzahnstange» der entscheidende Durchbruch gelang. Die Grundidee bestand darin, zwischen den Schienen eine Zahnstange zu montieren, in die die Triebzahnräder der Lokomotive eingreifen und den Zug bergauf bewegen. 1871 wurde mit der Vitznau-Rigi-Bahn die erste Zahnradbahn Europas eröffnet – mit Steigungen von bis zu 25 %.
Erfinder des Zahnradsystems
Riggenbachs Zahnradbahn auf die Rigi war ein grosser Erfolg. Dennoch ist umstritten, ob er auch als eigentlicher Erfinder des Zahnradsystems gelten kann. Ähnliche Konzepte waren bereits bei englischen Werkbahnen im Einsatz, und 1869 wurde in den USA nach den Plänen von Silvester Marsh (1803–1884) die weltweit erste Bergzahnradbahn auf den Mount Washington nördlich von Boston eröffnet.
Während der fast 70-jährige Marsh auf eine breite Kommerzialisierung seines Systems weitgehend verzichtete, verfügte Riggenbach um 1870 über das mit Abstand leistungsfähigste System und das Gespür, dessen Marktpotenzial im alpinen Tourismus auszuschöpfen. Zwei seiner Schüler erwiesen sich ebenfalls als äusserst erfolgreiche Bahningenieure: Der Luzerner Roman Abt (1850–1933) erfand 1882 die «Lamellenzahnstange», die bei über 70 Bahnprojekten weltweit zum Einsatz kam.
Emil Victor Strub (1858–1909) entwickelte eine Mischform der vorangegangenen Prinzipien, die erstmals 1898 bei den Jungfraubahnen angewendet wurde. Bei der mit einer Steigung von 46 % steilsten Zahnradbahn der Welt – der 1889 eröffneten Pilatusbahn – kommt das von Eduard Locher (1840–1910) entwickelte Zahnstangensystem zum Einsatz, bei dem die Zahnräder seitlich an der Schiene greifen.
Export in die ganze Welt
Die Schweiz gilt zu Recht als das Land der Bergbahnen. In keinem anderen Staat entstanden auf so kleiner Fläche so viele Zahnradbahnen. Doch sie sind keineswegs ein rein schweizerisches Phänomen, denn Bergbahnen mit Zahnradantrieb fanden weltweit Verbreitung. Entsprechende Bahnen wurden in zahlreichen Ländern Europas sowie in Nord-, Mittel- und Südamerika, Asien, Afrika und Ozeanien gebaut.
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Die allermeisten Bergbahnen der Welt sind mit einem von Schweizer Ingenieuren entwickelten Zahnradsystem ausgestattet. Der bedeutendste Hersteller von Zahnradlokomotiven war die 1871 gegründete Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM) in Winterthur. Während diverse Bahnlinien – etwa in den Anden oder im Libanon – inzwischen stillgelegt wurden, sind SLM-Loks in Indonesien und Südindien nach wie vor im Einsatz.
Die höchstgelegene je betriebene Zahnradbahn der Welt führte von 1964 bis 2017 mit Triebwagen der SLM und dem System Abt auf den 4301 Meter hohen Pikes Peak in Colorado (USA). 2021 wurden diese durch neue Fahrzeuge von Stadler Rail ersetzt. Zahnradbahnen fanden nicht nur im alpinen Gelände Anwendung: Auch im städtischen Raum bewährten sie sich – so zum Beispiel bei der Dolderbahn in Zürich.
Mit Adhäsion und Zahnrad über den Brünig
Neben reinen Zahnradbahnen gibt es auch Strecken, auf denen sowohl Adhäsions- als auch Zahnradantrieb zum Einsatz kommen, etwa bei der Brünigbahn. 1903 wurde sie Bestandteil der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB). Als einzige Schmalspurbahn und gleichzeitig einzige gemischte Adhäsions- und Zahnradstrecke war sie gewissermassen ein Unikum im SBB-Netz.
Auch die Stansstad-Engelberg-Bahn (StEB) verfügte auf dem steilen Abschnitt zwischen Grafenort und kurz vor Engelberg über eine Zahnstange. Da die Triebwagen der Engelbergbahn nicht mit Zahnrad ausgestattet waren, konnten sie die bis zu 24,6 % steile Strecke nicht aus eigener Kraft bewältigen. Stattdessen wurde sie von speziellen Zahnradlokomotiven den Berg hinaufgeschoben und bei der Talfahrt gebremst. Aufgrund der ruckeligen Fahrweise erhielt die Bahn im Volksmund den Übernamen «Schüttelbecher».
Nach finanziellen Schwierigkeiten wurde die Bahn umfassend modernisiert und 1964 in Luzern-Stans-Engelberg-Bahn (LSE) umbenannt. Am 1. Januar 2005 erfolgte der Zusammenschluss mit der Brünigbahn der SBB. Aus diesem entstand die Zentralbahn, die bis heute Abschnitte mit Adhäsions- und Zahnradbetrieb umfasst – und in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen feiert.
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