1909: Kaiser Franz Joseph war 79 Jahre alt und regierte seine Habsburger Monarchie seit unglaublichen 61 Jahren, er war zu einer lebenden Institution geworden. In der «Neuen Zürcher Zeitung» nannte man Franz Joseph abschätzig einen «greisen Monarchen». Aber die Öffentlichkeit, auch in der Schweiz, sah das anders: Dieser Kaiser hatte hohe Achtung verdient.
Vor den Augen aller hatte der Mann sehr viele Schicksalsschläge erlitten: Seine Tochter Sophie starb im Alter von zwei Jahren; sein Bruder Maximilian wurde in Mexiko hingerichtet; sein Sohn und Thronfolger Rudolf beging Selbstmord; seine Frau Elisabeth (genannt Sisi) kam bei einem Attentat ums Leben, notabene in der Schweiz.
So hätte man erwarten können, dass der Bundesrat alle Hebel in Bewegung setzte, um dem etablierten und mächtigen Herrscher der benachbarten Habsburger Monarchie einen würdigen Empfang zu bereiten. Denn die Initiative für den Besuch ging von Österreich aus. Der Kaiser besuchte Ende August 1909 den Vorarlberg und sah dabei einen Abstecher in die Schweiz vor.
Doch der Schweizer Bundesrat zierte sich. Damit die Visite den Status eines offiziellen Staatsbesuches erreichte, hätten alle Bundesräte anwesend sein müssen; sonst galt es nur als «Höflichkeitsbesuch». Aber Bundespräsident Adolf Deucher (1831–1912) zog es vor, zur Kur zu fahren, statt den Kaiser zu empfangen, obwohl er selber am Bodensee aufgewachsen war.
So musste der Vizepräsident des Bundesrates Robert Comtesse (1847–1922) in die Bresche springen und die dreiköpfige Bundesrats-Delegation anführen, begleitet von den hohen Militärs Ulrich Wille (später General) und Theophil Sprecher von Bernegg (später Generalstabschef).
Am Dienstag, dem 31. August 1909, war es so weit: Der Kaiser fuhr mit dem Salon-Dampfer «Kaiserin Elisabeth», der seiner verstorbenen Gattin Sisi gewidmet war, um Punkt 10:00 Uhr in Rorschach vor. Rorschach war wegen des übersichtlicheren Hafens Romanshorn vorgezogen worden, zudem spielte es eine Rolle, dass der Kanton St.Gallen mit Rorschach direkt an Österreich grenzt, im Gegensatz zum thurgauischen Romanshorn.
Der ganze Hafen von Rorschach war mit Girlanden und Blumen festlich geschmückt, die lokalen Organisatoren wollten sich nicht lumpen lassen. Dominierend waren – passend zu den Habsburger Fahnen – die Farben Schwarz-Gelb und Rot-Weiss. Auch der Leuchtturm war mit Fahnen und Blumen ornamentiert, ja man baute sogar einen zweiten «Leuchtturm» aus Holz auf.
An der Landungsstelle stand ein Triumphbogen mit Emblemen des österreichischen Kaiserhauses und der Eidgenossenschaft, und am Giebel des Kornhauses prangte ein grosses Schild mit dem österreichischen Doppeladler. Dazu schmetterte die Rorschacher Bürgermusik die österreichische Nationalhymne.
Doch der Kaiser sah das alles nur aus der Ferne, denn er blieb auf dem Salondeck seines Raddampfers und verliess das Schiff nicht. Für den damals üblichen militärischen Rahmen sorgte das St.Galler Füsilier-Bataillon 82, welches bei der Einfahrt in den Hafen 22 Böllerschüsse abfeuerte, dazu jubelte die in sicherer Distanz platzierte Bevölkerung, die diesmal buchstäblich als Zaungäste fungierte.
Der Kaiser präsentierte sich auf Distanz, aber durchaus standesgemäss, in seiner Feldmarschall-Uniform mit weissem Rock, roter Hose mit goldenem breitem Streifen, Helm mit Federbusch sowie dem Band des Ordens vom goldenen Vlies. Doch Franz Joseph blieb auf dem Schiff, sodass er an diesem Tag zwar die Schweiz besuchte, ohne aber offiziell Schweizer Boden zu betreten!
Stattdessen durften vier Minuten nach dem Vertauen des Schiffes ausgewählte Personen auf den Salondampfer steigen: Zuerst war es den drei Bundesräten Robert Comtesse, Ernst Brener und Anton Schobinger erlaubt, dem Kaiser die Hand zu schütteln. Sie trugen schwarze Fräcke. Comtesse überbrachte die besten Grüsse der Eidgenossenschaft und wies darauf hin, welch gute Beziehung ihre Länder hätten; in den 61 Regierungsjahren des Kaisers hätte keine grössere Krise die Beziehung zwischen den beiden Ländern getrübt.
Das traf zwar nicht ganz zu, aber für vertiefte Gespräche blieb einfach keine Zeit. So redete man nicht über die Flüchtlingsprobleme, über die Streitereien bei der Rheinkorrektion und auch nicht über die Ermordung seiner Frau in der Schweiz oder die Nachsicht der Schweiz gegenüber Anarchisten.
Nach den Bundesräten folgten die Militärs, zwei St.Galler Regierungsräte und der Rorschacher Stadtpräsident, schliesslich noch sechs weissgekleidete Mädchen aus Rorschach, die dem Kaiser ein Blumenbouquet mit roten und weissen Rosen übergaben und ein Gedicht aufsagten.
Doch bereits nach weniger als 20 Minuten erklärte der kaiserliche Oberzeremonienmeister den Besuch für beendet. Die Schweizer Gäste des Kaisers hatten das Schiff zu verlassen, das Militär feuerte erneute 22 Salutschüsse ab, und der Kaiser dampfte zu den Klängen der schweizerischen Nationalhymne – wieder von der Bürgermusik intoniert – auf dem Bodensee in Richtung Friedrichshafen davon.
War diese fast unhöfliche Kürze des Besuchs aufgrund der zögerlichen Haltung des Bundesrates zustande gekommen? Man könnte es vermuten. Dann wäre es eine Racheaktion der Österreicher gewesen.
Oder spielte etwas anderes hinein? Fürchtete man um das Leben des Monarchen – schliesslich war dessen Ehefrau 1898 in Genf einem Attentat zum Opfer gefallen? Wir wissen es nicht. Aber die kaiserliche Stippvisite mit einer rekordverdächtigen Dauer von weniger als 20 Minuten zählt gewiss zu den Kuriositäten der schweizerischen Aussenpolitik.
Die Kosten für Hotelübernachtungen, Reisespesen, Blumenschmuck, Holzbauten, Teppiche, Malerarbeiten, Druckerzeugnisse, Fotograf etc. beliefen sich, wie die Zusammenstellungen im Bundesarchiv zeigen, auf 10'805 Franken und 23 Rappen. Immerhin: Auch wenn der Staatsbesuch eher peinlich und unergiebig war, berichtete sogar die Londoner «Times» über das Treffen.