Die Freiheit dort, die Freiheit hier / Die Freiheit jetzt und für und für / Die Freiheit rings auf Erden! Der politische Dichter Ferdinand Freiligrath (1810–1876) schreibt im Februar 1848 die Aufstände im restaurativen Europa förmlich herbei. Wort und Tat sind eins. Aus politischer Überzeugung verzichtet er auf eine fürstliche Rente, dazu auf eine mögliche Anstellung am Hof von Weimar, verlässt die Heimat, lebt 1845 auch in der Schweiz, ein Zufluchtsort für politisch Verfolgte.
Im Hochland fiel der erste Schuss. Freiligrath sieht den Sonderbundskrieg als Fanal für die liberalen Erhebungen in ganz Europa. Schon kann die Schweiz vom Siegen ruhn, drauf ging der Tanz in Welschland los, gemeint die Februarrevolution 1848 in Frankreich, und also schallt’s von Berlin nach Wien … Vesuv und Aetna brachen los.
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verwandelt sich die Welt, ausgehend von der industriellen Revolution in England und der politischen Revolution in Frankreich. Doch 1815, am Wiener Kongress, wollen die alten Herrscher zurück zu den alten Zuständen. Die Erhebungen von 1848/49 sind eine Folge der verzögerten Modernisierung, wirtschaftlich, gesellschaftlich, politisch.
Die Revolutionen scheitern allesamt – so sehen es jedenfalls die Menschen damals. Nachträglich, im historischen Zusammenhang, erscheint dieses Scheitern als erneuter Ansturm auf Verfassung, Grundrechte, Parlament. Mittelfristig kommt es zu einer teilweisen Umkehrung: Revolutionen von oben führen 1861 zur nationalen Einigung in Italien, 1871 in Deutschland. Allerdings ist der Nationalstaat bloss die halbe Miete. Die andere Hälfte hiesse Demokratie.
Ja, stimmt: die Gräben des Sonderbundskriegs bleiben noch lange offen. Ja, stimmt: Initiative und Referendum fehlen noch. Ja, stimmt: 1848, das ist erst die nationale Schweiz, noch nicht die soziale, erst recht nicht die Schweiz der Frauen. Alles klar. Klar ist aber auch: Die Schweiz hat 1848 die fortschrittlichste Verfassung Europas.
Typisch Staatenbund: Die alte Eidgenossenschaft kennt keinen Hauptort, nur wechselnde Vororte. 1803 wird eine Rotation eingeführt: Freiburg, Bern, Solothurn, Basel, Zürich und Luzern sind je ein Jahr lang Vorort der Schweiz. Die eidgenössische Kanzlei, die einzige ständige Institution, zügelt laufend. Zuviel des Guten, aus sechs mach drei: Ab 1815 sind nur noch Zürich, Bern und Luzern Vororte, jeweils für zwei Jahre.
Die Kantonswappen auf dem Gedenkblatt sind nicht Garnitur, sondern tragendes Fundament. Bemerkenswert, dass in der Bundesverfassung nicht etwa die Eidgenossenschaft als souverän bezeichnet wird. Artikel 3 hält fest: Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist. Präzise Rechtssprache mit erheblichen Folgen.
Die offizielle Reihenfolge der Kantone von 1848 gilt bis heute: zuerst die drei ehemaligen Vororte, Zürich, Bern, Luzern, dann die Kantone nach dem Jahr ihres Beitritts zur Eidgenossenschaft. Nachzuprüfen auf dem Gedenkblatt oben, beginnend in der Mitte. Das ist zweifach von Bedeutung. Zum einen behält Luzern als Verlierer des Sonderbundskriegs seinen Vorzugsplatz. Zum andern wird 1848 aus den Hauptstädten der einstigen Vororte kein einziger Bundesrat gewählt. Die ersten Magistraten stammen durchwegs von den Rändern, aus ehemaligen Untertanengebieten. Zwei von ihnen, der Tessiner Stefano Franscini (*1796) und der Solothurner Josef Munzinger (*1791) wurden vor 1798 noch als Untertanen geboren.
Die Macht ungeschriebener Gesetze. Aus einem Kanton darf bis 1999 nicht mehr als ein Bundesrat stammen – alles andere ist politische Kultur, freiwilliger Proporz. Bereits im ersten Bundesrat sind drei Sprach- und Kulturregionen vertreten, dazu die beiden grossen Konfessionen. Als politisches Lager sind die Katholisch-Konservativen allerdings nicht beteiligt. Abgefedert wird dieser Ausschluss durch die unterschiedlichen Flügel des dominierenden Freisinns.
Und die soziale Herkunft? Der Vater des ersten Bundespräsidenten Jonas Furrer ist Schlosser, Ulrich Ochsenbeins Vater Landwirt, Wirt und Pferdehändler auf der Schwarzenegg in Fahrni, zweieinhalb Wegstunden oberhalb von Thun. Henry Drueys Vater betreibt ein einfaches Wirtshaus, Stefano Franscini wird in eine arme Bauernfamilie geboren. Bei den restlichen drei ersten Bundesräten sieht es anders aus: Josef Munzingers Vater ist wohlhabender Kaufmann, Friedrich Frey-Herosés Vater Chemie-Fabrikant, Wilhelm Matthias Näffs Vater Leinwandhändler. So oder so: keine Fürstensöhne.
In einer Tabelle erfüllen Symbole ihren Zweck, doch alles Persönliche fehlt ihnen. Auch zwischen Mann und Frau wird hier nicht unterschieden, weil es allein um den Parteien-Proporz geht. Im Gegensatz dazu ist die folgende Biografie voller Leben.
Acht Kinder, Stefano darf als Einziger studieren, dank Freiplätzen kostenlos, wird Lehrer, ist auf dem Weg zum Priester, bricht ab, wird Autodidakt in Mailands Bibliotheken: Geschichte, Recht, Staatsökonomie, Statistik. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Privatlehrer. Fehlen die Lehrmittel, schreibt er sie; fehlen die Schulen, gründet er sie; fehlen die Lehrer, setzt er fortgeschrittene Schüler ein. Zusammen mit seiner Frau Teresa, ebenfalls Lehrerin, eröffnet er eine Mädchenschule. Frauenförderung, vor 200 Jahren, partnerschaftlich.
Wissenschaftliches Interesse und Bildungsanliegen treiben ihn an. 1827 erscheint seine Statistica della Svizzera, bald darauf ein Werk über den öffentlichen Unterricht im Kanton Tessin, sodann eine Schrift über die Grundsätze einer liberalen Verfassung, bald ergänzt mit einem umfassenden Reformprogramm für den Kanton Tessin. Er gründet mehrere Zeitschriften, veröffentlicht kämpferische Artikel, übernimmt politische Ämter, wird Staatssekretär, Regierungsrat.
1850 organisiert Franscini die erste Volkszählung der Schweiz. Gern würde er 1855 an der ETH eine Professur für Statistik oder für italienische Sprache und Literatur übernehmen. Einen Lehrstuhl bekommt er nicht, aber politische Schmach.
Wo immer es brennt: Franscini soll’s richten. 1847 droht im Mendrisiotto eine Hungersnot: Franscini soll sie abwenden. Nach dem verlorenen Sonderbundskrieg sperrt man sich im Wallis gegen eine liberale Staatsordnung: Franscini soll beruhigen. Ob in Bellinzona oder bei den Schweizer Söldnern in Neapel, im Krisenfall schickt man ihn. Einer für alle.
Wenn umgekehrt Franscini Unterstützung braucht, ist das anders. 1848 erfolgt seine Wahl in den Bundesrat erst im dritten Wahlgang, mit dem schlechtesten aller Ergebnisse. Auch 1851, nach damals dreijähriger Amtsperiode, schafft er die Wiederwahl nur knapp. 1854 wird zum Desaster. Die Tessiner wählen ihn nicht mehr in den Nationalrat, was zu jener Zeit noch Voraussetzung ist für eine Wahl in den Bundesrat.
Kurz vorher hat das restaurative Österreich als Vergeltung für die Aufnahme politisch verfolgter Liberaler im Tessin die Grenze geschlossen, was zu einer Wirtschafts- und Finanzkrise führt. Franscini, der sich vehement gegen die Politik Österreichs wendet, wird dafür mitverantwortlich gemacht. Zudem fehlen dem Kanton seit 1848 die vorher beträchtlichen Zolleinnahmen, die jetzt an den Bund fallen, ein Hauptgrund dafür, dass die Tessiner die Bundesverfassung ablehnen.
Reiner Zufall, dass die Nationalratswahlen 1854 in Schaffhausen drei Wahlgänge erfordern. Die dortigen Liberalen bieten dem gedemütigten Franscini die Möglichkeit, im dritten Durchgang zu kandidieren. Er schafft die Hürde – braucht in Bern aber erneut drei Wahlgänge für den Verbleib im Bundesrat. Das zehrt an den Kräften, bei angeschlagener Gesundheit erst recht. Ein weiteres Mal will er sich das nicht gefallen lassen. Er entschliesst sich zur Rückkehr ins Tessin, wo ihm die Leitung der kantonalen Druckerei und des Archivs angeboten wird. Unerwartet stirbt er, 1857, noch im Amt.
Franscini tritt bescheiden auf, versöhnlich. Trotzdem gerät er als Vermittler gelegentlich zwischen die Fronten. Auch Diffamierung setzt ihm zu: Franscini schläft. Dabei behindert ihn seine Schwerhörigkeit, die ihn zusammen mit seinem mangelhaften Deutsch im Bundesrat zunehmend isoliert.
Jahrzehnte später hat sich das Blatt gewendet. Am 13. September 1896 strömt in Faido das Volk zusammen. Der 100. Geburtstag von Franscini wird zur Ehrenrettung, für den Geehrten, vielleicht auch für die Ehrenden.
Was doch ein Zaun bewirken kann. Unterteilt den Dorfplatz in zwei Zonen: eine für Franscini, eine für alle anderen, die seinetwegen hierher kommen. Die Statue auf einem kolossalen Sockel, schon fast entrückt. Franscini als Über-Vater. So hoch in den Himmel gehoben wurde er zu Lebzeiten nie. Am Fuss des Ehrenmals ein mächtiger Kranz, wie für einen Todestag, wo doch der 100. Geburtstag zu feiern ist. Unmittelbar daneben das Rednerpult, verziert, bereit für eine Ansprache.
Dahinter auffällig viel freier Platz. Abstand als Reverenz. Der Dorfplatz geschmückt mit Girlanden, die Balkone mit Blumen, überall Fahnen. Eine Blasmusik, aufgestellt im Kreis, verleiht dem Anlass zusätzliche Festlichkeit. Die Männer fast alle mit Hut, viele Frauen mit Kopftuch, Kinder mit Kappen. Offenbar haben sie erkannt, dass der Fotograf eine Aufnahme macht. Auffallend viele blicken zu ihm auf. Was sie wohl über Franscini und seine Ehrung denken? Das ist doch der Ihre, einer für alle.
Initiiert wird das Denkmal von der Società degli amici dell‘ educazione del popolo, der Gesellschaft der Freunde der Volksbildung, die Franscini 1837 mitbegründet hat, wie zahlreiche andere gemeinnützige Vereine. Einer für alle.
Statistica, Storia, Istruzione – Statistik, Geschichte, Volksbildung. Das Denkmal in Faido bringt das politische Vermächtnis Franscinis auf den Punkt.
Statistica. Franscini erkennt, dass politisches Handeln nicht nur leitende Maximen erfordert, sondern auch verlässliche Daten. Als Pionier, vorerst fast im Alleingang, treibt er statistische Erhebungen voran. Doch viele sind misstrauisch, desinteressiert oder werfen ihm gar vor, er missbrauche sein Amt für Forschungen und Publikationen.
Storia. In der Amtszeit von Franscini wird der Grundstein gelegt für eine der wertvollsten Leistungen der Schweizer Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, die Amtliche Sammlung der ältern Eidgenössischen Abschiede [Protokolle der Tagsatzung]. Zeitraum 1245–1798, ein Quellenwerk von 25‘000 Seiten. Vier der acht Bände werden in erzliberaler Zeit vom erzkonservativen Luzerner Philipp Anton von Segesser (1817–1888) herausgegeben.
Istruzione. Speziell: Franscini fördert die Volksbildung mit aller Kraft, misstraut aber dem Wankelmut des Wahlvolks. Persönliche Erfahrungen. Als überzeugter Radikal-Liberaler gibt er der indirekten, repräsentativen, parlamentarischen Demokratie den Vorzug gegenüber der direkten, durch Volksentscheid. Es ist der Staat, dem Franscini eine pädagogische Aufgabe zuschreibt. Der Staat soll die Gesellschaft mittels Reformen zu Prosperität und Zivilisierung führen. Und er selber, Stefano Franscini, ist der Erste Diener dieses Staates.
Mit Anerkennung für Franscini wird im vorliegenden Beitrag nicht gespart. Das ist keine unkritische Glorifizierung. Ebenso verfehlt wäre eine Reduzierung Franscinis auf eine Opferrolle. Bereits in jüngeren Jahren trifft der spätere Bundesrat folgenreiche Entscheidungen und behält diese Entschlusskraft auch in schwierigen Zeiten bei. In der Landesregierung zum Aussenseiter geworden, bleibt seine Wirkung begrenzt. Unbestreitbar aber ist Franscini ein bedeutender Reformer und Wegbereiter, kein strahlender Sieger, vielmehr einer, der bereit ist, seine Lebenskraft einzusetzen für grosse Ziele. Ehrenmeldung.