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Wie die Schweiz eigene Kampfjets baute – und die Chancen doch verpasste

Undatierte Aufnahme eines Kampfduesenjets P-16 der Schweizer Luftwaffe beim Flughafen Altenrhein. (KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Str) === , ===
Ein P-16 der Schweizer Luftwaffe auf dem Flughafen Altenrhein.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Wie die Schweiz eigene Kampfjets baute – ein dramatisches Kapitel Luftfahrtgeschichte

01.01.2021, 17:27
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Die politischen Debatten drehen sich heute um die Beschaffung ausländischer Kampfjets. Dabei ist fast in Vergessenheit geraten, dass die Schweiz einst alle Voraussetzungen hatte, um diese Kampfflugzeuge im eigenen Land zu bauen. Und zwar hochmoderne, den meisten ausländischen Modellen der Zeit überlegene Maschinen. Vor 70 Jahren ist die riesige Chance zum Aufbau einer Flugindustrie verpasst worden.

Immer wieder in seiner Geschichte ist unser kleines Land zu erstaunlich Grossem fähig. Aber manchmal scheitern wir auch am politischen Kleinmut. Die Geschichten um die schweizerischen Kampfflugzeug-Eigenentwicklungen N-20 und P-16 sind grandiose Beispiele solch verpasster Chancen. Im Rückblick (wenn alle klüger sind) staunen wir über die Argumente und Hintergründe, über die politischen Manöver und Intrigen rund um die Entwicklung eines eidgenössischen Kampfjets.

Über ein modernes eigenes Kampfflugzeug denkt man im Eidgenössischen Militärdepartement (EMD) erstmals kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs nach. Düsentriebwerke muss es haben, weil dies die Zukunft ist. Jets sind weitaus leistungsfähiger als propellergetriebene Flugzeuge. Und aus strategischen Gründen sollte das Projekt auf Schweizer Boden entwickelt und gefertigt werden.

Der Bundesrat schreibt 1948 mit einem entsprechenden Pflichtenheft den Auftrag für die Entwicklung und den Bau eines auf Schweizer Verhältnisse zugeschnittenen Kampfflugzeuges aus. In dieser Ausschreibung liegt der Keim des späteren Scheiterns. Denn nun konkurrieren zwei Flugzeugwerke gegeneinander. Die staatliche Werkstatt in Emmen und die private in Altenrhein. Was eigentlich belebende und anspornende Konkurrenz sein sollte, wird bald politische Ränkespiele und Intrigen produzieren.

Doch der Reihe nach. Allen ist klar: Die Zeit der brummenden Propellermaschinen ist für immer vorbei. Vorbild sind die deutschen Entwicklungen. Im Frühjahr 1945 muss kurz vor Kriegsende eine Messerschmitt Me-262 in Dübendorf notlanden. Es ist zu diesem Zeitpunkt das modernste Kampfflugzeug der Welt und der erste einsatzfähige Düsenjäger. Unsere Ingenieure bekommen Einblick in diese Technik.

Messerschmitt Me 262, an der Czech International Air Fest Air Show 2015 in Hradec Kralove
Die Me-262 war das erste in Serie gebaute Strahlflugzeug. Bild: Shutterstock

Die Voraussetzungen für die Weiterentwicklung dieser Technologie sind in der Schweiz optimal. Die ETH in Zürich hat den ersten Überschall-Windkanal der Welt gebaut. Hochbegabte Ingenieure entwickeln zusammen mit Professor Alexander Lippisch in den staatlichen Flugzeugwerken in Emmen ein revolutionäres Kampfflugzeug, das seiner Zeit weit voraus und einzigartig ist. Ein «fliegendes Dreieck». Es ist ganz aus Metall gefertigt und hat die Flügelform, die später unter anderem der Mirage das unverwechselbare Profil gibt.

Im Frühjahr 1951 ist der Prototyp mit der Bezeichnung P-20 mit vier Schweizer Triebwerken parat. Am 16. November 1951 startet die Maschine zum sechzehnminütigen Erstflug. Die Testpiloten sind begeistert, Hans Häfliger vergleich sie mit einer Balletttänzerin. 91 Flüge werden mit diesem Wunderwerk erfolgreich absolviert.

Das Schweizer Kampfflugzeug-Projekt N-20

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Das Schweizer Kampfflugzeug-Projekt N-20
Der einzige Prototyp des Schweizer Jagdbombers N-20.10 Aiguillon (deutsch «Stachel») steht heute im Flieger- und Flabmuseum Dübendorf. (bild: wikimedia)
quelle: wikimedia
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Das N-20-Projekt ist gut unterwegs. Es gibt nur ein Problem: Die Triebwerke liefern noch nicht die für einen Kampfeinsatz erforderliche Schubleistung. Alles was es jetzt noch braucht, damit das modernste, revolutionärste Kampfflugzeug der Welt in Serie produziert werden kann, ist ein Zusatzkredit in der Höhe von drei Millionen Franken zur Weiterentwicklung des Triebwerkes. Aber das Parlament lehnt diesen Kredit in der Frühjahrssession 1952 ab. In der Wintersession im Dezember 1952 streicht dann der Nationalrat auf Antrag der Finanzkommission den gesamten Kredit für die Weiterentwicklung des P-20 in der Höhe von ebenfalls drei Millionen. Eine der folgenschwersten Fehlentscheidungen der Parlamentarier (Parlamentarierinnen gibt es zu dieser Zeit noch nicht). Das Projekt N-20 wird daraufhin 1953 in Emmen definitiv begraben.

So endete das wohl visionärste Vorhaben in der Geschichte der Schweizer Flugzeugindustrie. Geniale Ingenieure und Aerodynamiker des Konstruktions-Teams verlassen enttäuscht die Flugzeugwerke Emmen und teilweise sogar das Land. Einige werden von der US-Luftfahrtindustrie angeworben, wo sie an der Entwicklung mehrerer Kampfflugzeuge beteiligt sein werden. Dieser Know-how-Verlust wird nie wieder wettzumachen sein.

F/A-18 fighter jets of the Swiss Army stand in a hangar of RUAG Aviation in Emmen in the canton of Lucerne, Switzerland, for maintenance, pictured on February 7, 2011. (KEYSTONE/Gaetan Bally)

Kampffl ...
Die Nachfolgerin der Flugzeugwerke Emmen, die RUAG Aviation, wartet immer noch Flugzeuge, hier Kampfjets des Typs F/A-18. Bild: KEYSTONE

Der Hintergrund dieser heute unverständlichen Entscheidung ist die private Konkurrenz der Flugzeugwerke Altenrhein. Während in Emmen der N-20 entwickelt wird, arbeiten die Ingenieure in Altenrhein am P-16-Projekt. Welches Flugzeug schliesslich von der Armee bestellt werden wird, entscheidet die Politik. Anders als von den militärischen Stellen erhofft, animiert die Wettbewerbssituation die zwei Entwicklungsteams in Emmen und Altenrhein nicht nur zu technischen Höchstleistungen. Sie führt auch zu einem erbitterten Ringen um die knappen Ressourcen. Der private Betrieb in Altenrhein, aus ökonomischen Gründen stärker auf den lukrativen Auftrag fixiert als das staatliche Werk in Emmen, setzt alles daran, den politischen Prozess der Entscheidungsfindung in seinem Sinn zu beeinflussen.

Es gelingt den Flugzeugwerken Altenrhein offenbar, genügend Politiker (Politikerinnen gibt es zu dieser Zeit noch nicht) «einzuseifen». Walter Dörig, von 1987 bis 1989 Kommandant der Flieger- und Flabtruppen, der 1951 als junger Ingenieur und Leutnant bei den Fliegertruppen dem Vaterland dient, sagt rückblickend: «Die aktive P-16-Lobby aus der Ostschweiz wirkte im Hintergrund am Begräbnis des N-20-Projektes mit». Am 23. Dezember 1953 verkündet Bundesrat Karl Kobelt das Ende des Projekts N-20. Es hat insgesamt rund 14 Millionen gekostet.

Ein Bundesrat durchbricht die Schallmauer
Am 14. Oktober 1947 knackt der amerikanische Testpilot Chuck Yeager im Raketenflugzeug Bell X-1 in etwa 15'000 Metern Höhe nachweislich zum ersten Mal die Schallmauer. Der Testpilot Hans Häfliger erreicht am 6. April 1955 als erster Schweizer mit einer britischen Hunter-Maschine über England Überschallgeschwindigkeit. Am 15. August 1956 durchbricht er mit dem zweiten P-16 Prototyp im Stechflug als erster Schweizer auf einem Schweizer Flugzeug die Schallmauer. Mit Schallgeschwindigkeit fliegen ist das grosse Abenteuer der Zeit, fast wie später eine Mondlandung. Am 27. Februar 1957 lässt sich Bundespräsident Hans Streuli im Alter von 64 Jahren in einem Hunter-Doppelsitzer durch die Schallmauer fliegen. Er ist das erste Staatsoberhaupt der Welt, das sein Land mit Überschallgeschwindigkeit überfliegt. Die Schallgeschwindigkeit beträgt unter normalen Bedingungen 1223,432 km/h.
Der Bundesrat Karl Kobelt studiert in seinem Arbeitszimmer einige Dokumente, undatierte Aufnahme. (KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Str)
Bundesrat Karl Kobelt (FDP).Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Die Konkurrenz ist also auf dem politischen Weg ausmanövriert. Nun beginnt mit dem Projekt P-16 das spektakulärste, dramatischste Kapitel in der Geschichte unserer Flugzeugindustrie. In Altenrhein ist man seit dem Ende des N-20-Projekts überzeugt: Der P-16 wird der erste helvetische Kampfjet sein. Die Signale aus Bern sind klar: Das Militärbudget 1954 enthält insgesamt fast 15 Millionen Franken für den P-16. Die Serienproduktion soll 1958 beginnen.

Anders als der N-20 ist der P-16 mit Ausnahme der Flügelkonstruktion kein revolutionäres Flugzeug. Doch es kommt mit den besonderen Bedingungen in unserem Land zurecht. Es ist robust, kann auf kurzen Pisten starten und landen, sogar auf Rasen wie in Bleienbach. Zudem ist es einfach zu bedienen und auch für Milizpiloten gut zu fliegen. Bereits am 25. April 1955 absolviert der P-16 mit Testpilot Hans Häfliger mit Erfolg seinen Erstflug.

Das Schweizer Kampfflugzeug-Projekt P-16

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Das Schweizer Kampfflugzeug-Projekt P-16
Der erste Prototyp des Schweizer Kampfjets P-16 absolvierte im April 1955 seinen Erstflug. Das Erdkampfflugzeug wurde von den
Flug- und Fahrzeugwerken Altenrhein entwickelt. (bild: wikimedia/kobel)
quelle: wikimedia/kobel
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Weitere Testflüge bestätigen seine Eignung. Beim 22. Testflug am 31. August 1955 kommt es zu einem Defekt bei der Treibstoffzufuhr aufgrund einer brüchigen Schweissnaht. Eine Rückkehr zum Flughafen Altenrhein (heute: St.Gallen-Altenrhein) ist nicht mehr möglich und Hans Häfliger muss das Flugzeug mit dem Schleudersitz verlassen. Er ist der erste Schweizer, der sich mit einem Schleudersitz rettet, und landet unversehrt vor der Gemeinde Horn im Bodensee. Das Flugzeug liegt rund 35 Meter unter der Seeoberfläche.

Die Flugzeugwerke Altenrhein engagieren den Suhrer Garagenbesitzer Martin Schaffner, im Volk als «Bombenschaffner» populär. Er hat während des Zweiten Weltkrieges viel Geld mit der Bergung von abgestürzten und notgelandeten alliierten Bombern aus Schweizer Seen verdient. Die komplizierte Bergung gelingt und kostet 40'000 Franken.

Der unverletzte Testpilot Oberleutnant Haefliger legt den Journalisten nach dem Unfall mit dem neuen schweizerischen Duesenflugzeug P-16 auf dem Flugplatz Altenrhein seine Eindruecke dar, aufgenommen  ...
Testpilot Hans Häfliger (M.) an einer Pressekonferenz nach einer Bruchlandung im Sommer 1955. Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Dass Prototypen abstürzen, gehört zu ihrem Daseinszweck. Die Fehler, die zu Unfällen führen, sollen dann im endgültigen Serienmodell nicht mehr passieren. Doch die Presse (Internet und Fernsehen gibt es ja noch nicht) reagiert bereits bei diesem ersten Absturz heftig und die Politiker sind rührig. Im Hintergrund wirken wohl auch noch jene emsig, die durch den Abbruch des N-20-Projektes verärgert sind.

Die Flugzeugwerke Altenrhein geben Gegensteuer und mobilisieren das damals legendäre PR-Büro von Dr. Rudolf Farner, um den Zwischenfall zu bagatellisieren. Mit Erfolg. Am 23. Dezember 1953 bewilligt der Nationalrat mit 124:17 Stimmen weitere 176 Millionen für das Projekt. In Altenrhein wähnt man sich weiterhin auf Kurs.

Mit der Auslieferung des P-16 wird inzwischen im Jahr 1960 gerechnet. Deshalb kommt die Beschaffung der britischen Hunter statt des P-16 ins Spiel. In der Zwischenzeit sollten ja die etwas aus der Mode kommenden britischen Kampfjets Venom und Vampire langsam ausgemustert werden. Bei einem Testschiessen am 23. August 1957 in Forel bei Payerne erreicht die P-16 die bessere Trefferquote als der Hunter. Beunruhigte Vertreter der Vereinigung der Schweizer Flugzeugindustrie reisen am 25. Oktober 1957 nach Bern und werben für den P-16.

Ein Hunter Mk 58/58A rollt am 26. August 1994 an einer Flugshow ueber die Rollbahn des Militaerflughafens von Buochs, Schweiz. Der Hunter Mk 58/58A und 68 wurde 1958 in Dienst gestellt und wird auf En ...
Der britische Kampfjet Hunter blieb bis 1994 im Dienst der Schweizer Luftwaffe. Bild: KEYSTONE

Trotzdem will der Bundesrat für 312,7 Millionen Franken hundert Hunter bestellen, um den Himmel über Helvetien bis zur Lieferung der P-16 bewaffnen zu können. Die St.Galler Regierung interveniert und verlangt, dass mit den Hunter nun auch die P-16 definitiv geordert werden. Am 5. März 1958 beginnt die schicksalsschwere Debatte im Nationalrat: Sollen 100 P-16 zum Preis von 407 Millionen Franken bestellt werden? Es gibt im Land kein anderes politisches Thema, das die öffentliche Meinung so stark beschäftigt und aufwühlt. Am 7. März 1958 beschliesst der Nationalrat mit 111:36 Stimmen die Beschaffung von 100 P-16. Es ist vollbracht.

Die eidgenössische Flugzeugindustrie ist gerettet. Oder doch nicht?

Plumps. Platsch. Der Düsenjäger P-16 hat über dem Thurgau viel Hydrauliköl verloren und ist im Landeanflug nicht mehr zu steuern. Der zweite P-16 geht verloren. Am 25. März 1958 versinkt die Maschine vor Rorschach im Bodensee. Und wie sich bald zeigt, auch der Traum eines eidgenössischen Kampfjets. Testpilot Jean Brunner hat sich per Schleudersitz ins sieben Grad kalte Wasser gerettet. Dort droht er zu ertrinken. Doch nach zehn Minuten erreichen ihn die drei Buben Peter, Roland und Hanspeter mit ihrem Pedalo und retten ihn.

Beim Absturz des in Erprobung befindlichen dritten Prototyps des Kampfflugzeuges P-16 in den Bodensee, konnte sich der Pilot Jean Brunner mit dem Schleudersitz retten und wurde von vier Rorschacher Kn ...
Pilot Jean Brunner und seine Lebensretter. Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Dieser Unfall geht also glimpflich aus. Aber die politischen Folgen sind fatal. Das «Luzerner Tagblatt» höhnt: «Mit den zwei P-16 sind auch viele Millionen Franken Bundes- und Steuergelder im Bodensee versunken. Wenn das so weitergeht, wird unsere Armee noch sehr lange auf die bestellten Modelle ‹made in Switzerland› warten müssen. Sie hat ja schliesslich nicht Unterseeboote für das Schwäbische Meer, sondern Flugzeuge für den Kriegseinsatz in Auftrag gegeben.»

Der P-16 – eines der erfolgreichsten Geschäftsflugzeuge der Welt
Wie gut war der P-16 tatsächlich? In der Schweiz ist ein objektives Urteil in der aufgewühlten Stimmung nach dem Scheitern des Projektes schon aus politischen Gründen kaum erhältlich. Die Flugzeugwerke Altenrhein laden deshalb den amerikanischen Testpiloten Bill Lear junior zu Probeflügen ein. Am 17. März 1960 macht er den ersten von fünf Testflügen. In seiner im Jahr 2000 erschienen Autobiographie erinnert er sich: «Den P-16 zu fliegen war nicht nur ein Vergnügen, ich entdeckte auch dass die Schweizer ein verdammt gutes Flugzeug gebaut hatten.» Die Tatsache, dass das Flugzeug von der Schweizer Armee verschmäht worden ist, erklärt er mit der «geistig überforderten Presse» und der «bürokratischen Dummheit des Schweizer Parlaments». Sein Vater Bill Lear senior teilt die Begeisterung seines Sohnes und gründet zusammen mit den Flugzeugwerken Altenrhein die «Swiss American Aviation Corporation». In Zusammenarbeit mit dem Konstrukteur Hans-Luzius Studer entwickelt er auf der Basis der P-16-Technik das zweistrahlige Geschäftsflugzeug «Lear Jet». Der Bau des Prototyps und die Pläne für die Serienherstellung von anfänglich 25 Stück sind bereits weit fortgeschritten, als sich Bill Lear senior entschliesst, das gesamte Programm in den USA weiterzuführen. Er gründet in Wichita (Kansas) das Unternehmen «Lear Jet Industries.» Am 7. Oktober 1963 findet dort der erste Testflug des Flugzeugmusters Lear Jet statt, das später in die Serienproduktion geht und von dem weltweit über 1000 Stück verkauft werden. Der P-16 wird sozusagen eines der erfolgreichsten Privatflugzeuge der Welt – aber unsere Industrie hat nichts davon. Die offizielle Begründung für die Rückkehr in die USA: der wichtigste Markt für Geschäftsflugzeuge sei Nordamerika. Doch es gibt eine inoffizielle, die der Wahrheit wohl näherkommt. Bill Lear senior findet, die tüchtigen Schweizer Ingenieure arbeiten viel zu langsam. Seine Argumentation: Sie zeichnen ihre Pläne mit Tinte, was sie zwingt, ständig Pausen einzulegen, um die Tinte trocknen zu lassen. Dabei ginge es doch auch mit Bleistift.

Die «Thurgauer Arbeiterzeitung» schreibt gar von einer «Grundwelle der Empörung», die durchs Schweizer Volk gehe. Witze werden nun kreiert: Fritz Gegauf in Steckborn, der die Bernina-Nähmaschinen herstellt, sei vom Bundesrat angefragt worden, ob er auch Flugzeuge produziere. Er sei doch auf versenkbare Modelle spezialisiert. Der P-16 werde jetzt mit Schnorchel ausgerüstet. Damit er als U-Boot eingesetzt werden könne.

Die vom Nationalrat gutgeheissene Bestellung von 100 Jets in Altenrhein wird vom Bundesrat am Tag nach dem Unfall sistiert und dann am 2. Juni 1958 definitiv gestoppt. Bundesrat Paul Chaudet begründet das Ende des P-16-Projektes auch psychologisch: Weitere Zwischenfälle könnten sich in der Bevölkerung nicht nur auf das Vertrauen in dieses Flugzeug, sondern auf das Vertrauen in die ganze Landesverteidigung verhängnisvoll auswirken. Insgesamt sind die Entwicklung des P-16 gut 47 Millionen Franken investiert worden.

Testpilot Hans Häfliger, der es ja aus reicher Erfahrung wissen muss, wird später sagen: «Solche Rückschläge, die überall sonst auf der Welt bei ähnlichen Projekten als kalkulierbares Risiko angesehen werden, sind bei uns leider zur Katastrophe heraufgespielt worden. Dies trug dann wesentlich dazu bei, die schon bestellte Serie von 100 Maschinen zu annullieren. Im Rückblick können wir sagen, dass dieser Entscheid ungerechtfertigt war, denn in Bezug auf Flug-, Start- und Landeeigenschaften ist dieses Erdkampfflugzeug nie übertroffen worden.» Später wird bekannt, dass die Luftwaffenführung die Weiterentwicklung des P-16 hintertrieben habe, weil der Jet nicht für den Abwurf von Atombomben geeignet war. Zu dieser Zeit bekennt sich der Bundesrat noch zu einer atomaren Bewaffnung der Schweiz.

Mit Blick auf die technische Realisierbarkeit hätte es also keinerlei Gründe gegeben, den Abbruch der Übung zu verfügen. In jeder Flugerprobung moderner Flugzeuge werden Hunderte von Änderungen eingeführt, um Fehler zu beheben. Die Test-Piloten sind von den Eigenschaften des P-16 als Tiefangriffs-Flugzeug sehr angetan: hervorragende Schiessplattform, starke Bewaffnung, robuste Zelle für eine lange Lebensdauer, weitgehende Trudelsicherheit. Die Leistungen liegen durchaus im Bereich des nun an Stelle des P-16 eingeführten englischen Hunter.

Ja, die helvetische Konstruktion ist dem britischen Kampfjet in wichtigen Bereichen sogar überlegen. Und kein Pilot ist bei den mehr als 100 Testflügen des N-20 und P-16 ums Leben gekommen. Hingegen verlieren zwischen 1950 und 1958 24 Piloten unserer Luftwaffe bei Abstürzen mit Schul- und Kampfflugzeugen verschiedenster Bauart ihr Leben.

Seit dem Ende von N-20 und P-16 ist in der Schweiz nie mehr ernsthaft erwogen worden, ein eigenes Kampfflugzeug zu bauen. Eine riesige Chance ist für immer vergeben worden. Die vollständige Entwicklung mit Serienbau hätte die Schweizer Industrie nachhaltig gefördert. Das Modell Schweden zeigt etwa, wie erfolgreich eine eigene Flugzeugindustrie sein kann.

Es wäre in den 1950er Jahren eine weitgehende Unabhängigkeit vom Ausland (Autarkie) samt Erhalt und Ausbau eines grossen Industriezweiges über Jahre, ja Jahrzehnte möglich gewesen, und es hätte die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit anderen Ländern und Industrien bestanden. Milliarden von Steuergeldern wären in einheimische Firmen und Arbeitsplätze geflossen. Und es ist eine Ironie der Geschichte, dass Bundesrat Paul Chaudet damals am 2. Juni 1958 vor dem Parlament den bundesrätlichen Verzichtsentscheid und das Ende der helvetischen Kampflugzeug-Industrie erklärt hatte.

Portrait von Bundesrat Paul Chaudet (1904-1977), Vorsteher des Militaerdepartements, aufgenommen im Oktober 1957.(KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Str)
Bundesrat Paul Chaudet (FDP).Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Acht Jahre später muss er am 28. November 1966 seinen Rücktritt erklären. Er ist über den Skandal rund um die Beschaffung des französischen Kampflugzeuges Mirage gestolpert («Mirage-Affäre»). Wäre der P-16 bestellt worden, hätte seine politische Karriere nicht so unrühmlich geendet.

Literatur
• «Helvetische Jäger – Dramen und Skandale am Militärhimmel» von Roman Schürmann.
• «Piloten über den Alpen» von Dölf Preisig.
• «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» von Jakob Tanner.
• «Ingenieure bauen die Schweiz» von Georges Bridel.
• «Privatflugzeuge von 1946 bis heute» von Kenneth Munson.

Was passiert mit den Tiger Kampfjets der Schweiz?

Video: srf/Roberto Krone
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83 Kommentare
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T13
01.01.2021 17:46registriert April 2018
"Es gelingt den Flugzeugwerken Altenrhein offenbar, genügend Politiker (Politikerinnen gibt es zu dieser Zeit noch nicht) «einzuseifen»."
Da scheint sich bis heute Nix geändert zu haben bei den offenen Ohren unseren Parlamentariern für gewisse Kreise.
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maylander
01.01.2021 18:15registriert September 2018
Einzig Schweden hat als vergleichbares Land eigene Kampfflugzeuge. Ein riesiges Verlustgeschäft.
Sogar Deutschland und Grossbritannien haben keine eigenen Kampfflugzeugtypen mehr.

Mit Pilatus hat die Schweiz eine sehr gute Flugzeugindustrie. Erfreulicherweise spielen mittlerweile die. Zivilen Typen PC-6, PC-12 und PC- 24 eine grosse Rolle.
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Toerpe Zwerg
01.01.2021 18:14registriert Februar 2014
Klasse Geschichte.

Danke.
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Liebe Huberquizzer

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