Die erste Fotografin der Schweiz
Ein Blick in die Anzeigenspalten historischer Zeitungen ist immer spannend, vermitteln sie doch einen lebendigen Eindruck vom Alltag und Gewerbe ihrer Zeit. Wenn wir uns etwa mithilfe des Solothurner Blatts ins Solothurn des Jahres 1843 versetzen, finden wir Werbung für «guten Wachholder-Branntwein (aus Beeren gebrannt) zu 26 Batzen die Maass», eine Stellenausschreibung für «zwei junge Frauenzimmer von guter Familie und Aufführung zur Erlernung des Plättens» oder das Inserat für eine Wohnung «an einer gangbaren Landstrasse eine Viertelstunde vor der Stadt». Bei der St.-Ursen-Kathedrale ist ein goldenes Ohrgehänge verloren gegangen und jemandem ist ein grauer Pudel zugelaufen. Schliesslich verwahrt sich der Wirt Johann Joseph Strausack per Inserat gegen die verleumderische Unterstellung, er habe im Stadtwald eine Tanne gefrevelt.
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Unter all diesen Angeboten, Aufrufen und Informationen sticht am 8. April 1843 ein Inserat hervor, etwas grösser als die meisten anderen, in Fettdruck hervorgehoben, mit der Überschrift «Lichtportraite». Eine gewisse Franziska Möllinger bringt darin «zur öffentlichen Kenntniss, dass sie vollkommen getreue und durch Schönheit ausgezeichnete Lichtportraits verfertigt». Ein einzelnes Porträt ist für sieben Franken zu haben (das entspricht heute ungefähr 120 Franken), für eine Familiengruppe kostet es einen Franken mehr. Wer uns aus diesem Inserat entgegentritt, ist niemand anders als die erste Frau, die in der Schweiz als Fotografin tätig war – und eine der ersten der Welt.
Erst im Jahre 1839 hatte der Franzose Louis Daguerre eine fotografische Technik vorgestellt, die für kommerziellen Einsatz geeignet war. Dieses Verfahren, die Daguerreotypie, war eine Sensation: Bedeutete der Wunsch nach einem Porträt bis dahin längere Modellsitzungen bei einem Maler mit ungewissem Resultat – längst nicht alle der zahlreichen reisenden Porträtmaler, die ihre Dienste anpriesen, lieferten Werke mit grosser Ähnlichkeit ab –, entstand nun ein naturgetreues Porträt schon ab einer Aufnahmedauer von 20 Sekunden, wie Franziska Möllinger in ihrem Inserat betont.
Daguerreotypien boten eine hohe, detailreiche Qualität, wenn auch die Technik noch mit gewissen Einschränkungen verbunden war. Die nach heutigen Massstäben lange Belichtungsdauer erforderte bei Porträts völliges Stillsitzen oder -stehen und unbewegte Gesichtszüge, um ein scharfes Bild zu erhalten. Die Bilder auf versilberten Kupferplatten liessen sich nicht ohne weiteres reproduzieren. Die Vorzüge der neuen Technik waren aber so offensichtlich, dass sie sich rasch verbreitet hatte – auch in der Schweiz, auch in Solothurn, wie Möllingers Inserat zeigt.
Franziska Möllinger und die Daguerreotypie
Franziska Möllinger wurde 1817 in Speyer geboren und kam 1836 zusammen mit ihrem Bruder Otto nach Solothurn. Otto Möllinger hatte eine Stelle als Mathematikprofessor an der Kantonsschule erhalten. Ottos Interessen waren breit gefächert und er widmete sich in Solothurn bald den verschiedensten wissenschaftlichen, publizistischen und gewerblichen Aktivitäten. Recht erfolgreich betrieb er etwa die galvanische Vergoldung. Da er sich nachgewiesenermassen mit dem Thema Fotografie beschäftigt und auch dazu publiziert hat, vermutet sein Biograph Hans R. Stampfli, dass er seine Schwester unterstützt habe.
In der Zentralbibliothek Solothurn hat sich ein interessanter Band erhalten, der in diesem Zusammenhang stehen könnte: ein Konvolut von zusammengebundenen Werken unter anderem zum Thema der Galvanisierung – und eine deutsche Übersetzung von Daguerres Beschreibung seines Verfahrens von 1839. Da der Band ausserdem einen Stempel der Professorenbibliothek Solothurn enthält, scheint die Wahrscheinlichkeit hoch, dass diese thematisch so charakteristische Zusammenstellung von Otto Möllinger angeschafft wurde – und auch durch die Hände seiner Schwester ging?
Von Franziska Möllingers Werk hat sich wenig erhalten. Am bekanntesten ist ein publizistisches Projekt, das sie in den Jahren 1844 und 1845 anging: Im Selbstverlag veröffentlichte sie lithografierte Ansichten von Stadtbildern und Landschaftsansichten aus der Schweiz nach ihren daguerreotypierten Vorlagen. Eine Pioniertat, wie Markus Schürpf festhält – zum ersten Mal wurden in der Schweiz Fotografien als Druckvorlagen verwendet. Der finanzielle Erfolg blieb allerdings aus; nach den ersten 16 Ansichten wurde das eigentlich grösser angelegte Mappenwerk nicht mehr fortgesetzt.
Im Original erhalten geblieben sind zwei Daguerreotypien. Bis Anfang 2024 ging die Forschung sogar nur von einer einzigen aus, einer Ansicht von Schloss Thun aus dem Jahr 1844. Inzwischen ist jedoch eine zweite Daguerreotypie Möllingers aus demselben Jahr zum Vorschein gekommen, die für die Sammlung der Zentralbibliothek Solothurn erworben werden konnte. Sie ist auch über ihre Bedeutung für die Fotografiegeschichte hinaus inhaltlich bemerkenswert, da sie Exilanten aus Polen bei der Gedenkstätte für den in Solothurn verstorbenen polnischen Nationalhelden Tadeusz Kościuszko in Zuchwil zeigt. Die Herausforderung des Stillhaltens bei der Aufnahme zeigt das etwas verschwommene Gesicht des einen Porträtierten …
Ihre Dienste als Daguerreotypistin hat Franziska Möllinger nicht nur in Solothurn, sondern auch in Biel und in ihrer Heimatstadt Speyer angeboten, sie war also, wie damals nicht unüblich, eine Wanderfotografin. Nach 1845 scheint sie nicht mehr daguerreotypiert zu haben. 1872 zog sie mit Ottos Familie nach Fluntern bei Zürich, wo die Möllingers ein privates mathematisches Institut betrieben. Sie starb 1880. Als Todesursache wird eine «Lungenschrumpfung» angegeben – es könnte sich um eine Spätfolge ihrer Tätigkeit als Daguerreotypistin handeln, war das Verfahren doch mit gefährlichen Quecksilberdämpfen verbunden.
Das ist auch schon fast alles, was wir heute über Franziska Möllinger wissen. Ihre Biografie ist nur in groben Zügen bekannt. Ausgerechnet von dieser Fotopionierin und Porträtistin hat sich auch kein Bildnis erhalten – wir können keine Vorstellung von ihrem Aussehen erhalten.
Was bleibt, sind ihre wenigen erhaltenen Werke. Sie hat sich damit an einem sehr frühen Zeitpunkt der Entwicklung der Fotografie profiliert, als eine der damals ganz wenigen fotografierenden Frauen weltweit. Als selbständige Auftragsfotografin tätig war vor Franziska Möllinger wahrscheinlich nur – Ende 1842 und damit wenige Monate früher nachgewiesen – Bertha Beckmann in Dresden.
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Es sind einzelne Frauen bekannt, die schon früher fotografische Aufnahmen angefertigt haben: Die Engländerin Sarah Anne Bright fotografierte 1839 das Blatt einer Pflanze. Ebenfalls 1839 experimentierte Constance Fox Talbot, die Ehefrau des Erfinders Henry Fox Talbot, mit seinem fotografischen Verfahren. Als «erste Fotografin» genannt wird auch Anna Atkins, die 1843 Fotografien (sogenannte Cyanotypien) von Algen in einer Buchpublikation veröffentlichte. Franziska Möllinger steht als Daguerreotypistin und mit ihrer publizistischen Unternehmung jedenfalls an einer hervorragenden Stelle in dieser Reihe der Fotopionierinnen.
Montag, 27. Oktober 2025, 19:00 bis 20:00 Uhr
In einer Präsentation zum Welttag des audiovisuellen Erbes 2025 beleuchtet die Zentralbibliothek Solothurn, in welchem Kontext Möllingers Schaffen in den Anfangsjahren der Fotografie steht, und zeigt weitere Daguerreotypien aus dem Bestand.
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