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Die Antikom­mu­nis­ten von Genf

Genf und die Schweiz wurden in den 1920er-Jahren zu einem antikommunistischen Zentrum. 
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Genf und die Schweiz wurden in den 1920er-Jahren zu einem antikommunistischen Zentrum.Illustration: Marco Heer

Die Antikom­mu­nis­ten von Genf

Der Genfer Anwalt Théodore Aubert war treibende Kraft hinter der Entente internationale anticommuniste. Die Organisation agierte aus der Calvinstadt heraus und hatte Kontakte in die höchsten politischen Kreise.
28.06.2025, 22:0528.06.2025, 22:05
Christophe Vuilleumier / Schweizerisches Nationalmuseum
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Am 23. Juni 1924 versammelten sich in Paris konservative Aktivisten, Politiker und Militärs aus ganz Europa mit einem gemeinsamen Ziel: dem Kampf gegen den Kommunismus. Was zunächst ein Treffen unter Gleichgesinnten war, wurde bald zur Geburtsstunde einer internationalen Organisation, die Jahrzehnte lang aus dem Verborgenen heraus Einfluss auf Politik, Medien und sogar Geheimdienste nahm – die Entente internationale anticommuniste (EIA).

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Die Gruppe beschloss «die Bildung einer internationalen Entente, die dazu bestimmt ist, die Tätigkeit subversiver Gruppierungen zu bekämpfen, zu denen in erster Linie die Dritte Internationale gehört, die darauf abzielen, die moderne Zivilisation und die Institutionen jedes Landes zu zerstören und die Grundsätze der Ordnung, der Familie, des Eigentums und des Vaterlandes zu verteidigen».

Die Dritte Internationale
Die Dritte Internationale, auch Komintern (Kommunistische Internationale) genannt, war ein weltweiter Zusammenschluss kommunistischer Parteien. Sie wurde 1919 in Moskau gegründet und hatte das Ziel, die Ideen der russischen Oktoberrevolution international zu verbreiten und kommunistische Regierungen zu fördern. Die Organisation wurde 1943 aufgelöst, um die Zusammenarbeit der Sowjetunion mit den westlichen Alliierten im Kampf gegen Deutschland nicht zu gefährden.

Zur Gründung der Organisation trug unter anderem ein Mord bei. Im Mai 1923 hatte der Russland-Schweizer Maurice Conradi den sowjetischen Gesandten Wazlaw Worowski in Lausanne erschossen. Worowski weilte dort für die Verhandlungen über die Zukunft des Osmanischen Reiches, welche schliesslich im Juli 1923 mit dem Vertrag von Lausanne abgeschlossen wurden. Obwohl Conradis Tat eine persönliche Rache war, gelang es dem Genfer Anwalt Théodore Aubert, daraus einen politischen Prozess zu machen. Er klagte die Sowjetunion und den Bolschewismus an und erreichte einen Freispruch seines Mandanten.

Dieses sensationelle Urteil und die rasche Verbreitung von Auberts Plädoyer durch die Medien bestärkten den Genfer, einen internationalen Kreuzzug gegen den Bolschewismus zu beginnen. Unterstützt wurde er dabei von Georges Lodygensky, dem ehemaligen Delegierten des zaristischen Roten Kreuzes.

Porträt von Théodore Aubert, 1939.
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Porträt von Théodore Aubert, 1939.Bild: Wikimedia, notrehistoire

Die EIA richtete ein ständiges Büro in Genf ein und baute ein Netz von Korrespondenten in den meisten europäischen Ländern auf. Dies machte die von Aubert geleitete Liga zur grössten und beständigsten Gruppierung im antikommunistischen Kampf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Das Büro bemühte sich, EIA-Zellen in verschiedenen Ländern zu gründen, häufig durch Rekrutierung aus bestehenden bürgerlichen und nationalistischen Kreisen. Aubert sprach Persönlichkeiten der konservativen Genfer Elite an und konnte ab 1926 Oberst Alfred Odier als Verbindungsmann zum Generalstab der Armee gewinnen. In weniger als zehn Jahren gelang es Théodore Aubert, eine Vielzahl von Vertretern der bürgerlichen Rechten aus der ganzen Schweiz für die Entente zu begeistern. Zu den Unterstützern gehörten unter anderem der Zürcher Bankier Hans de Schulthess, Oberstdivisionär Guillaume Favre, der Waadtländer Nationalrat Jean de Muralt oder ab 1936 der Schweizer Gesandte in Rom, Georges Wagnière, der im selben Jahr auch Mitglied des IKRK wurde.

1924 wurde Genf zum Zentrum der Entente. Postkarte von 1924.
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1924 wurde Genf zum Zentrum der Entente. Postkarte von 1924.Bild: e-pics

Einfluss­rei­ches Netzwerk

Die EIA pflegte nicht nur enge Beziehungen zum Internationalen Roten Kreuz, sondern auch zum Politischen Departement (heute EDA) in Bern, zur Bundesanwaltschaft und zum obersten Schweizer Polizisten Heinrich Rothmund. Von diesen Stellen erhielt die Entente regelmässig vertrauliche Informationen. Gleichzeitig lieferten die Genfer Antikommunisten Details über Aktivitäten und Personen, welche von ihnen als subversiv eingestuft worden waren.

Die EIA versuchte auch, Einfluss im Schweizer Parlament zu gewinnen. Jean de Muralt stellte 1931 eine Gruppe antibolschewistischer Nationalräte zusammen, darunter Henri Vallotton und Pierre Rochat. Aubert wurde im November 1935 auf der Liste der Union nationale, einer faschistischen und antisemitischen Gruppierung in Genf, ins Parlament gewählt. Ab 1929 pflegte Aubert eine enge Beziehung zu Jean-Marie Musy, Bundesrat und Vorsteher des Finanz- und Zolldepartements, mit dem er seine Abneigung gegen das bolschewistische Regime teilte.

Ende 1924 wurde Jean-Marie Musy zum Bundespräsidenten für das folgende Jahr gewählt. Frontseite des Journal du Jura vom 11. Dezember 1924.
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Ende 1924 wurde Jean-Marie Musy zum Bundespräsidenten für das folgende Jahr gewählt. Frontseite des Journal du Jura vom 11. Dezember 1924.Bild: e-newspaperarchives

In Grossbritannien schloss sich die EIA mit der Economic League zusammen. Diese Organisation war 1919 gegründet worden und wollte die britische Industrie vor kommunistischen, sozialistischen und linken Bewegungen schützen. Die Economic League wurde von mächtigen Industrie- und Finanzkonzernen unterstützt. In Frankreich standen Aubert und seine Mitstreiter ab 1930 in engem Kontakt mit dem Geheimdienst Deuxième Bureau. Auch in Deutschland und Italien stiess die EIA auf offene Türen. Aus beiden Ländern flossen finanzielle Unterstützungen in die Organisation.

Bis in die ersten Kriegsjahre des Zweiten Weltkriegs hinein konnte die EIA deshalb gross angelegte Propagandakampagnen durchführen, etwa auf dem Balkan, gesteuert durch das Zentrum für antikommunistische Studien in Rom. Im Spanischen Bürgerkrieg, in dem zwischen 1936 und 1939 die halbe Welt involviert war, unterstützte die EIA das Lager von General Franco mit Propagandakampagnen. Darin stellte sie den Krieg als Kampf der christlichen Zivilisation gegen den bolschewistischen Barbarismus dar.

EIA-Propagandaplakat gegen die jüdisch-bolschewistische Unterdrückung der Frauen.
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EIA-Propagandaplakat gegen die jüdisch-bolschewistische Unterdrückung der Frauen.Bild: Wikimedia

Die Vielzahl an Hilfs- und Mitgliedsorganisationen sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EIA nie eine Massenbewegung war und auch nie eine werden wollte. Im Gegenteil, die Organisation verstand sich in erster Linie als subtiles und diskretes Einflussnetzwerk, das in den herrschenden Eliten der betroffenen Länder aktiv war.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die Entente an Einfluss, nicht nur wegen der Rolle der Sowjetunion im Kampf gegen das Dritte Reich, sondern vor allem auch wegen der Anerkennung Moskaus durch die Schweiz. Der Krieg hatte auch zu neuen Gleichgewichten geführt, die den antikommunistischen Kampf eher in die amerikanischen Sphären verschoben. Théodore Aubert und Georges Lodygensky beschlossen, den Verein zu schliessen und die Bibliothek und das Archiv der Organisation der Bibliothèque publique et universitaire de Genève zu vermachen. Natürlich, nachdem sie die Dokumente sorgfältig gesichtet hatten.

>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Die Antikom­mu­nis­ten von Genf» erschien am 24. Juni.
blog.nationalmuseum.ch/2025/06/die-internationale-antikommunistische-entente
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