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Schluss­ma­chen auf neutrale Art

Treffen der Neutralen. Von links: Bundesrat Kaspar Villiger, Finnlands Elisabeth Rehn, Österreichs Werner Fasslabend und Schwedens Anders Björck im Bernerhof in Bern.
Treffen der Neutralen. Von links: Bundesrat Kaspar Villiger, Finnlands Elisabeth Rehn, Österreichs Werner Fasslabend und Schwedens Anders Björck im Bernerhof in Bern.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Schluss­ma­chen auf neutrale Art

Am Ende des Kalten Krieges verliert das Konzept der Neutralität an Relevanz. Zu Beginn der 1990er-Jahre zerfällt deshalb auch die Gruppe der vier europäischen Neutralen Schweiz, Schweden, Österreich und Finnland.
08.10.2023, 13:5008.10.2023, 17:13
Thomas Bürgisser / Schweizerisches Nationalmuseum
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Sie lächeln zwar alle nett, doch eigentlich markiert das Treffen das Ende einer jahrzehntelangen Beziehung. Auf Einladung des Vorstehers des Eidgenössischen Militärdepartements, Bundesrat Kaspar Villiger, fanden sich Anfang Oktober 1992 die Verteidigungsministerin Finnlands, Elisabeth Rehn, sowie ihre schwedischen und österreichischen Amtskollegen Anders Björck und Werner Fasslabend in Bern zu einem informellen Meinungsaustausch zusammen.

Erstaunlicherweise handelt es sich dabei um die erste Zusammenkunft der führenden Sicherheitspolitiker der vier neutralen Staaten Europas; hatten diese doch im Kalten Krieg durchaus viele gemeinsame Kontakte unterhalten. Das erste Rendezvous fühlte sich allerdings bereits wie eine Trennung an. «Herausragendes Ergebnis der Tagung», berichtete Villiger dem Gesamtbundesrat, «war die klare Feststellung, dass die Neutralität von den vier teilnehmenden Staaten nicht mehr als gemeinsame Basis für politisches Handeln angesehen wird.»

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Bundesrat Kaspar Villiger, aufgenommen 1990.
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Bundesrat Kaspar Villiger, aufgenommen 1990.Bild: ETH Bibliothek Zürich

Zwar beteuerten die ehemaligen Partner, es bestehe weiterhin eine gewisse Interessensgemeinschaft, doch, wie Villiger ernüchternd feststellte, deute der «unbedingte Wille, vor allem der nordischen Teilnehmer, sich jede Handlungsfreiheit in der Neutralitätsfrage zu wahren, jedenfalls nicht darauf hin, dass die gemeinsamen Interessen sehr tief verwurzelt wären».

Schweden betrachte sich rundheraus nicht länger als neutral, fasste Villiger die Positionen zusammen: «Österreich und Finnland werden zwar formell von der Neutralität nicht abrücken, sie jedoch immer weniger betonen.» Ihr oberstes Ziel sei es, auf jeden Fall zu vermeiden, «dass die Neutralität die Gestaltung des Verhältnisses zur Europäischen Union belaste». So hört sich wohl Schlussmachen auf neutrale Art an.

Selbstredend war die Gemeinschaft der vier Neutralen Europas nie eine ganz innige ménage à quatre gewesen. Dafür waren die Akteure zu verschieden. Aus den Erfahrungen der beiden schadlos überstandenen Weltkriege hatte die Schweiz die dauerhafte und bewaffnete Neutralität während des Kalten Kriegs als zentrale Voraussetzung für ihre Unabhängigkeit angesehen, als nationalen Kitt und zugleich Königsweg für ihre Rolle als Sonderfall der internationalen Beziehungen. Gleichzeitig war die Schweiz wirtschaftlich vollständig in das westliche System integriert.

Die finnische Neutralität dagegen wurzelte im Freundschaftsvertrag von 1948 mit dem mächtigen Nachbarn UdSSR. Die Regierung in Helsinki konnte sich dadurch während des Ost-West-Konflikts eine relative Handlungsfreiheit bewahren. Dennoch galt «Finnlandisierung» gemeinhin als Synonym für «eingeschränkte Souveränität».

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Auch Österreichs immerwährende Neutralität war der jungen Republik 1955 im Moskauer Memorandum von der Sowjetunion auferlegt worden – und dies explizit nach dem Vorbild der Schweiz. Wien wurde für Bern zu einer (von oben herab gesehenen) neutralen Vergleichsgrösse und, wenn es um die Sitzfrage internationaler Organisationen ging, gar zu einem ernsten Konkurrenten Genfs.

Der UNO-Sitz in Genf aus der Vogelperspektive, 1954.
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Der UNO-Sitz in Genf aus der Vogelperspektive, 1954.Bild: ETH Bibliothek Zürich

Schweden schliesslich, welches sich wie die Eidgenossenschaft auf eine weiter zurückreichende Neutralitätstradition berief und das seit 1953 gemeinsam mit der Schweiz das Mandat für die Überwachung des Waffenstillstands in Korea teilt, galt als wichtigste Referenz, gewissermassen als alter ego. Bei zahlreichen neutralitätspolitisch als heikel eingestuften Fragen der internationalen Politik hatten die eidgenössischen Diplomaten während Jahrzehnten auf Stockholm geschielt – oft auch, um sich zu vergewissern, dass man sich in Bern für eine weniger aktivistische, diskretere und eben noch neutralere Gangart entscheiden konnte.

Gewiss empfanden es die Gralshüter helvetischer Neutralität im Aussendepartements dabei als Genugtuung, wenn die Schweiz auch von Entwicklungsländern als «Neutralster der Neutralen» wahrgenommen wurde. In den Augen der Schweizerinnen und Schweizer galt und gilt eigentlich nur die Schweiz so richtig als neutral, auch wenn diese Neutralität ein vages Konzept blieb, das im Laufe der Zeit in der aussenpolitischen Praxis immer sehr flexibel angewendet wurde.

Ein gemeinsames Wesensmerkmal der vier Neutralen Europas war von Beginn weg ihre geostrategische Lage zwischen den Militärbündnissen NATO und Warschauer Pakt (dies unterschied sie vom ebenfalls neutralen Irland), wodurch sie, gemeinsam mit dem bündnisfreien Jugoslawien, an den Flanken des Kontinents eine sicherheitspolitische Pufferfunktion wahrnahmen. Durch ihre neutrale Stellung erhielten sie alle auf der internationalen Bühne eine überproportionale Beachtung.

Eine neue Phase der Kooperation der Neutralen hatte ab den 1970er-Jahren die Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eingeläutet, der sogenannte KSZE-Prozess als Forum des Dialogs zwischen Ost und West. Im Vorfeld wie im Nachgang der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki 1975 blühte die Zusammenarbeit der schweizerischen, schwedischen, österreichischen und finnischen Delegationen auf, die in entscheidenden Verhandlungsphasen zwischen den Blöcken um die USA und die UdSSR vermitteln und Lösungsvorschläge einbringen konnten. Im Verband mit den blockfreien Staaten Jugoslawien, Zypern und Malta etablierten sich die Neutral and Non-Aligned States (N+N) als feste Grösse einer gesamteuropäischen Verständigungspolitik.

Diesen diskreten Vermittlungsbemühungen, die im engen Handlungsrahmen des Kalten Krieges gedeihen konnten, wurde mit dem Ende des Ost-West-Konflikts nach 1989 jede Grundlage entzogen. Urplötzlich standen die Zeichen auf eine gesamteuropäische Einigungsbewegung. Neutrale Puffer und Vermittler waren nicht mehr gefragt, denn alle schienen nun an demselben Strick zu ziehen. So unterzogen nun alle vier Neutralen die Prioritäten ihrer Aussen- und Sicherheitspolitik einer grundlegenden Neubetrachtung.

Bis zur Wende waren die Schweiz, Österreich, Schweden und Finnland auch wirtschaftlich, im Rahmen der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) eng miteinander verzahnt gewesen. Mit dem Fall des «Eisernen Vorhangs» strebten zuerst Wien, kurz darauf auch Stockholm und Helsinki nach einem Beitritt zur EU, die eine ökonomische und auch politische Vereinigung ganz Europas vorantrieb. Das Projekt eines Europäischen Wirtschaftsraums als gemeinsames Dach zwischen EFTA und EU erachteten sie nur noch als Übergangslösung.

Gut zwei Monate nach dem sicherheitspolitischen Neutralentreffen in Bern lehnte am 6. Dezember 1992 die Schweizer Stimmbevölkerung den EWR-Vertrag an der Urne ab. Der Bundesrat, der schon im Oktober 1991 als strategisches Ziel die EU-Mitgliedschaft der Schweiz verkündet hatte, landete hart auf dem Boden der integrationspolitischen Realität, während die Kolleginnen und Kollegen in Österreich, Schweden und Finnland ihre Länder bis 1995 in die Europäische Union führen sollten – und dabei nota bene erklärtermassen neutral blieben.

Die EWR-Abstimmung 1992 spaltete das Schweizer Stimmvolk.
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Die EWR-Abstimmung 1992 spaltete das Schweizer Stimmvolk.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Das EWR-Nein erforderte ein Umdenken in der schweizerischen Europapolitik. An der Notwendigkeit einer sicherheitspolitischen Neupositionierung des Landes änderte das Volksverdikt derweil nichts. Die KSZE, einst gemeinsame Hoffnungsträgerin nicht nur der Neutralen Europas, erwies sich in der Umbruchszeit nach Ende des Kalten Krieges als wenig effektives Ordnungsinstrument. «Unsere Partnerländer Schweden, Finnland und Österreich suchen aus diesem Grund eine Annäherung an die NATO und die WEU», den militärischen Beistandspakt der EU-Staaten, schrieb Bundesrat Villiger kurz nach der schicksalshaften Volksabstimmung an Bundespräsident René Felber.

Entsprechend bestehe «auch für uns ein sicherheitspolitischer Bedarf, einen solchen Schritt zu vollziehen», um zu «vermeiden, sicherheitspolitisch in die Isolation zu geraten», so der Schweizer Verteidigungsminister. «Die Bekämpfung moderner Abstandswaffen und Trägersysteme könnte schon bald einmal die technischen und finanziellen Möglichkeiten eines Kleinstaates übersteigen», gab Villiger zu bedenken.

Dass das Land sich im Konfliktfall militärisch autonom verteidigen könnte, erschien zunehmend illusorisch. «Auch einem Neutralen muss gestattet sein, die nötigen Vorkehren zu treffen, um seine Sicherheit zu garantieren.» Zwar sei es heute zu früh, «über die Natur solcher Vorkehren zu spekulieren, doch sollte rechtzeitig daran gedacht werden, das politische Terrain für einen solchen Schritt vorzubereiten».

Rund 30 Jahre lang bestand für die Schweiz, Schweden, Finnland und Österreich kaum Handlungszwang, sich ernsthaft mit einer engeren Assoziation, die über die NATO-Initiative der losen «Partnerschaft für den Frieden» (welcher zum Beispiel auch Russland, Belarus und die Ukraine angehörten) hinausging, auseinanderzusetzen. Ihre Neutralitätskonzeptionen dümpelten, jede auf ihre eigene Weise, vor sich hin.

Erst mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mussten sich die vier Länder erneut grundsätzlich mit der Frage der Neutralität auseinandersetzen. Die unterschiedlichen Antworten zeigen, wie stark sie sich seit der Trennung auseinandergelebt haben.

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Der vorliegende Text ist das Produkt einer Zusammenarbeit zwischen dem Schweizerischen Nationalmuseum und der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis). Das SNM recherchiert im Archiv der Agentur Actualités Suisses de Lausanne (ASL) Bilder zur schweizerischen Aussenpolitik und Dodis kontextualisiert diese Fotografien anhand des amtlichen Quellenmaterials. Die Akten zum Jahr 1992 wurden am 1. Januar 2023 auf der Internetdatenbank Dodis publiziert. Die im Text zitierten Dokumente und weitere Akten aus dem Band Diplomatische Dokumente der Schweiz 1992 sind online verfügbar.
>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Schluss­ma­chen auf neutrale Art» erschien am 3. Oktober.
blog.nationalmuseum.ch/2023/10/schlussmachen-auf-neutrale-art

Roger Nordmann sieht die Neutralität als «Werkzeug»

Video: srf/arena
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Die Geschichte der Nato
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1949: In Washington wird am 4. April der Nordatlantikvertrag unterzeichnet. Das Bündnis hat anfangs zwölf Mitglieder: Belgien, Dänemark, Frankreich, Grossbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die USA.
quelle: epa/u.s. national archives / u.s. national archives and records administration / handout
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Arslan und Moser in der Arena zur Neutralität
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