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Die Ausstellung im Stapferhaus «Natur. Und wir?» spricht alle Sinne an

Ausstellung Stapferhaus Natur – und wir?
Grossflächige Natur-Projektionen auf Tüll erzeugen im Zusammenspiel mit musikalischen Improvisationen eine sphärische Stimmung.Bild: Stapferhaus/Anita Affentranger
Review

Was ist Natur? Wie geht es ihr – und wie stehst du zu ihr? Im Stapferhaus erfährst du es

07.05.2023, 06:3207.05.2023, 13:56
Daniel Huber
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Die erste Überraschung gibt's schon, bevor ich durch den schwarzen Vorhang gehe, hinter dem die Ausstellung beginnt: «Ihre Schuhe und Socken können Sie in den Fächern dort deponieren», sagt die freundliche Mitarbeiterin. Tatsächlich – die Ausstellung «Natur. Und wir?» im Stapferhaus in Lenzburg begeht man mit dem natürlichsten aller Fortbewegungsmittel: auf blossen Füssen.

Und das macht Sinn. Die nackten Fusssohlen bekommen es nacheinander mit höchst unterschiedlichen Untergründen zu tun – weicher Sand, glattes Holz, kaltes Metall, kleine Steine, selbst Platten aus Pilzmycel. Erstaunlich, wie viel der Tastsinn und die Temperaturwahrnehmung über den jeweiligen Untergrund verraten. Erstaunlich auch – dieser Gedanke drängt sich mir als nahezu immer beschuhtem Stadtmenschen geradezu auf – wie wenig man im Alltag über die Fusssohlen wahrnimmt. Künstlichkeit als Filter, der Sinneseindrücke dämpft.

Ausstellung Stapferhaus Natur – und wir?
Der Sand im ersten Raum der Ausstellung schmeichelt den nackten Füssen. Zugleich erfahren wir hier aber auch, wie wichtig dieser Rohstoff für die Herstellung von Beton ist. Bild: Stapferhaus/Anita Affentranger

Was ist Natur?

Damit sind wir schon mitten im Thema der Ausstellung. Was ist das überhaupt, Natur? In welchem Verhältnis stehen wir zu ihr? Und wem gehört sie?

Natur gibt es nicht – es gibt nur unsere Vorstellungen davon. Dies erfahren wir schon im ersten Raum, in dem es um unser Verständnis von Natur geht. 147 Sammlungsobjekte zeigen, wie wir Menschen mit Natur umgehen: Wir fürchten, erobern, schützen, verkaufen, erforschen und ordnen sie. Am Beispiel des Wolfs erkennen wir, wie Natur als Projektionsfläche für unsere Ängste dient; an den Schaukästen mit säuberlich geordneten Insekten sehen wir, wie sie kategorisiert und hierarchisiert wird. Und wir sehen, wie wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen – namentlich die Aufklärung und die Industrialisierung – unsere Vorstellungen von Natur geprägt haben. Fazit: Es ist die Kultur, die unser Verständnis von Natur bestimmt.

Ausstellung Stapferhaus Natur – und wir?
Dieser ausgestopfte Wolf wirkt friedlich. Eine Ausnahme – besonders früher wurden diese Beutegreifer oft als zähnefletschende Bestien dargestellt. Bild: watson

Denken wir etwa an jene Stelle in der Bibel, in der die Menschheit den Auftrag erhält, sich die Erde untertan zu machen: «Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie untertan, und herrscht über die Fische des Meers und über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf der Erde regen.» Auch wenn sich moderne Theologen bemühen, diesen Auftrag nicht als Freipass zur Ausbeutung der Natur zu lesen, zeigt sich in der göttlichen Anweisung doch ein Verständnis von Natur, in dem diese primär als Ressource erscheint – und von dem eine Entwicklungslinie zu Massentierhaltung, Regenwaldabholzung und Überfischung führt.

«Zeitalter des Menschen»: Der kritische Zustand der Erde

Damit hat der Mensch – haben wir – den Planeten mittlerweile in einen kritischen Zustand gebracht. Dies ist die Botschaft, die 20 hochformatige Satellitenaufnahmen in der Mitte des nächsten Raums zusammen mit einer Vielzahl von Zahlen und Fakten, aufbereitet in schwarz-weissen Infografiken, eindrücklich illustrieren. Hier sehen wir etwa Palmöl-Plantagen in Indonesien, das Häusermeer Tokios, eine Goldmine in Australien – sie alle bilden vom All aus gesehen Muster von abstrakter, aber trügerischer Schönheit.

Ausstellung Stapferhaus «Natur. Und wir?»
Trügerische Schönheit: Satellitenaufnahmen. Bild: watson

Hier erfahren wir auch Dinge, die wir vielleicht lieber gar nicht wüssten. Etwa, dass ein Masthuhn innerhalb von 37 Tagen von 40 Gramm auf zwei Kilogramm Gewicht gemästet wird. Oder dass Wildtiere nur vier Prozent der Säugetier-Biomasse ausmachen, der Mensch und seine Nutztiere dagegen 96 Prozent. Wir sehen Grafiken zu den Folgen des Klimawandels, zum Wasserverbrauch bei der Baumwollproduktion oder zum Artensterben in der Schweiz.

Ausstellung Stapferhaus «Natur. Und wir?»
Eindrückliche Infografiken zeigen den kritischen Zustand der Welt. Bild: watson

Mittlerweile ist der menschliche Einfluss auf die Erde so tiefgreifend, dass manche Geologen bereits das gegenwärtige Holozän von einem neuen Zeitalter abgelöst sehen – dem Anthropozän, dem «Zeitalter des Menschen». Die Spuren, die der Mensch jetzt hinterlässt, werden noch Jahrtausende bleiben. Die Arten, die durch sein Wirken verschwinden, werden nie mehr zurückkommen. Aus diesem dominanten und im Effekt zerstörerischen Einfluss der Menschheit auf das Erdsystem erwächst ihre Verantwortung für die Zukunft des Planeten, die sie bisher nicht übernommen hat: Noch gehen wir mit natürlichen Ressourcen alles andere als sorgsam und verantwortlich um.

Neue Perspektiven

Doch die Ausstellung begnügt sich nicht damit, die Verfehlungen der Menschheit im Umgang mit der Natur darzulegen. Rund um den zentralen Bereich, der die unangenehmen Fakten illustriert, sind acht Pavillons gruppiert, in denen neue, überraschende Perspektiven präsentiert werden, die laut dem Stapferhaus-Team dazu einladen sollen, «unsere Beziehung zur Natur neu zu denken».

So stelle man sich etwa vor, ein Fluss habe Rechte. Die radikale Neuinterpretation juristischer Grundsätze, die in diesem Gedanken steckt, ist mit einem Urteil des kolumbianischen Verfassungsgerichts Tatsache geworden: Der Rio Atrato hat dadurch den Status eines Rechtssubjekts erhalten. Dies gibt der lokalen Bevölkerung, bei welcher der Fluss als Lebewesen gilt, juristische Mittel an die Hand, um gegen die Verschmutzung ihres Lebensraums vorzugehen.

Oder man stelle sich vor, man entdecke die Welt als Fuchs. Auf den Spuren des Tierarztes Charles Foster, der London auf allen Vieren aus der Perspektive eines Stadtfuchses erkundete, kann man in diesem Pavillon auf Kniehöhe zwischen Mülltonnen herumkriechen und dabei die Sinneswahrnehmungen eines Fuchses nachempfinden.

In den anderen Pavillons lernt man die Welt der Pilze kennen oder sieht auf einem Monitor, wie sich die elektrische Spannung einer verkabelten Basilikumpflanze ändert, wenn man sie berührt. Man erfährt, was für ein Kosmos an Bakterien, Viren, Pilzen und Kleinstlebewesen auf uns und um uns herum lebt – das unsichtbare Mikrobiom, ohne das wir gar nicht leben könnten. Oder man hört dem philosophischen Gespräch zwischen einem Rasenmäher und einem Hunderoboter über die Frage zu, was natürlich ist.

Ausstellung Stapferhaus «Natur. Und wir?»
Verkabelter Basilikum: Die Pflanze spürt Berührungen. Bild: Stapferhaus/Anita Affentranger

Den Raum zwischen den Pavillons haben die Ausstellungsmacher – das Team um die künstlerische Leiterin Sibylle Lichtensteiger und das Büro Kossmanndejong aus den Niederlanden – für 17 grossflächige Natur-Projektionen auf Tüll genutzt. Im Zusammenspiel mit 17 musikalischen Improvisationen erzeugen sie eine zuweilen sphärische, poetische Stimmung. Hier besonders zeigt sich die multimediale Stärke der Ausstellung, und man fragt sich nicht, warum das Stapferhaus vor drei Jahren 2020 mit dem European Museum of the Year Award ausgezeichnet worden ist.

Wie stehen wir zur Natur?

Während des gesamten Parcours sind die Besucher, die zu Beginn einen elektronischen «Kompass» erhalten, immer wieder mit Fragen konfrontiert. Sie sollen selbst Position beziehen und beispielsweise entscheiden, wen die Feuerwehr im Falle eines Brandes zuerst retten soll – die Menschen, dann die Haustiere und schliesslich die Nutztiere oder alle mit derselben Priorität. Eine der vier Antworten kann mittels des Kompasses ausgewählt und gespeichert werden; am Ende des Durchgangs erhält der Besucher dann eine Auswertung, die ihn in einer Art Smart-Spider zwischen den vier Stereotypen «die Un­bekümmerten», «die Technikfreudigen», «die Ganzheitlichen» oder «die Informierten» positioniert.

Diesen vier Typen liegen unterschiedliche Weltanschauungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur zugrunde. Für die «Unbekümmerten» ist die Natur dazu da, sie zu nutzen und sich an ihr zu erfreuen; die Probleme der Welt kann der Mensch ohnehin nicht lösen. Die «Technikfreudigen» vertrauen auf den menschlichen Erfindergeist, der die Natur unterstützen und Bedrohungen entschärfen soll. Die «Ganzheitlichen» wiederum sehen den Menschen als gleichberechtigten Teil der Natur, der sich stärker zurücknehmen und im Einklang mit der Umwelt handeln soll. Für die «Informierten» ist die Natur ein komplexes System in der Krise, das wir umso positiver beeinflussen können, je besser wir das Problem verstehen.

Ausstellung Stapferhaus «Natur. Und wir?»
Debatte auf Video: Welcher Typ bist du? Welche Argumente überzeugen dich?Bild: Stapferhaus/Anita Affentranger

Im letzten Raum, noch bevor die Besucher die Auswertung ihrer Antworten erhalten, debattieren diese vier Stereotypen während 20 Minuten in einer Videoinstallation und tauschen ihre Argumente aus. Dann führen den Besucher an der Wand tanzende Lichtpunkte, die für seine Antworten stehen, aus der Ausstellung – zurück zu Schuhen, Socken und den anderen Problemen der Welt.

«Natur. Und wir?»
Stapferhaus Lenzburg
Bahnhofstrasse 49, 5600 Lenzburg
Bis 29. Oktober 2023
Di. bis So. 9 – 17 Uhr, Do. 9 – 20 Uhr
Die Ausstellung ist auf Deutsch, Französisch und Englisch.
Der Katalog kostet 20 CHF.
Weitere Infos: stapferhaus.ch
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30 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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pinex
07.05.2023 09:24registriert August 2014
Danke für den Tipp, ich habe den Artikel nur halb gelesen und dann beschlossen, die Ausstellung am besten selbst zu besuchen und erleben!
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Zum Kommentar
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masze
07.05.2023 07:33registriert August 2019
Eigentlich sollten alle im National-, Stände- oder Bundesrat sowie die Kantonsparlamente die Ausstellung besuchen müssen und ihre Antworten auf die Fragen offen gelegt werden.
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