Bei «Europäisierung» denkt man unweigerlich an die Europäische Union (EU). Europa hat sich aber über die EU hinaus in zahlreichen weiteren internationalen Organisationen institutionalisiert – so zum Beispiel im Europarat mit seinen 46 Mitgliedstaaten, zu denen auch die Schweiz gehört. Diese Mitgliedschaft der Schweiz hat im Laufe der letzten fast 60 Jahre vor allem in der Bundesverfassung deutliche Spuren hinterlassen.
Dass die Schweiz sich als verantwortungsbewusste Partnerin einer international vernetzten Welt versteht, bringt bereits die Präambel der heute gültigen Bundesverfassung zum Ausdruck. Der Bund müsse sich stetig erneuern, «um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken». Diese Solidaritätserklärung der Schweiz geht dann allerdings nicht so weit, dass die Bundesverfassung einen klaren Vorrang des Völkerrechts festsetzen würde. In Artikel 5 werden Bund und Kantone lediglich darauf verpflichtet, das Völkerrecht zu beachten.
Das Völkerrecht beschränkt auch in aller Regel das Initiativrecht nicht. Die Bundesversammlung muss Volksinitiativen lediglich dann für ungültig erklären, wenn sie gegen zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verstossen. Ein Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) reicht in der Regel nicht für deren Zurückweisung. So fanden verschiedene Volksinitiativen wie beispielsweise die Verwahrungsinitiative von 2004, die Minarettverbotsinitiative von 2009 oder die Ausschaffungsinitiative von 2010, die aus Sicht der EMRK kritisch sind, Eingang in die Bundesverfassung.
Dieses Spannungsfeld zwischen direktdemokratischen Rechten und dem europäischen beziehungsweise internationalen Grundrechtsstandard wurde mit der neuen Bundesverfassung von 1999 nicht aufgehoben. Es bleibt als eines der grossen verfassungsrechtlichen Probleme der Schweiz bestehen.
Die Schweiz trat 1963 als letzter westeuropäischer Staat dem Europarat bei und ratifizierte 1974 die EMRK. Damit kam ein erster Europäisierungsschub bei den Schweizer Grundrechten in Gang. Im Vorfeld dieser Ratifizierung musste die Schweiz das Frauenstimmrecht einführen, und mit der Anerkennung der EMRK unterstellte sie sich der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).
Man war sich zwar Ende der 1960er-Jahre ziemlich sicher, dass es nie zu einer Verurteilung der Schweiz kommen würde, weil der Schweizer Grundrechtsstandard diesen Minimalanforderungen genügen würde, doch die künftige Geschichte sollte die Schweiz eines Besseren belehren. In den folgenden Jahren ergingen immer wieder Urteile in Strassburg, welche die Schweiz rügten.
Oft betrafen die Urteile die Verfahrensrechte. In der Schweiz gab es damals noch einen Flickenteppich von Verfahrensordnungen. So hatte jeder Kanton seine eigene Zivil- und Strafprozessordnung. Diese respektierten die europäischen Standards nicht durchgehend. Zum Beispiel war im Strafprozess die anklagende Behörde nicht immer von der entscheidenden getrennt, der Staatsanwalt entschied in der Sache häufig gleich selbst.
Der EGMR intervenierte aber auch, weil die Schweiz Angeschuldigten, die freigesprochen worden waren, Verfahrenskosten auferlegte. Dieses Motto – «es reicht zwar nicht für eine Verurteilung, aber ein bisschen büssen müsst ihr trotzdem» – war aber nicht vereinbar mit der Unschuldsvermutung. Zudem war damals in der Schweiz für diverse Verfahren von geringerer Bedeutung der Rechtsschutz noch eingeschränkt. Gewisse Bussen liessen sich vor keinem Gericht anfechten, was nicht EMRK-konform war.
In den 1980er und 1990er-Jahren bildete sich eine vielfältige Rechtsprechung des EGMR aus, welche die Schweizer Grundrechte weiterentwickelte und verfeinerte. Der Text der alten Bundesverfassung von 1848/1874 blieb im Vergleich dazu weit zurück. So erstaunt es nicht, dass sich der Grundrechtekatalog der neuen Bundesverfassung von 1999 wesentlich erweitert und am Text der EMRK sowie an der Rechtsprechung des EGMR orientiert hat. Massgeblich verbessert hat sich der Rechtsschutz.
Zudem erhielten die Verfahrensrechte drei neue Bestimmungen: eine allgemeine Verfahrensgarantie (Artikel 29), eine Garantie speziell in Verfahren vor Gerichten (Artikel 30) und eine Bestimmung zu den Garantien bei einem Freiheitsentzug (Artikel 31). Letzteres ist besonders wichtig und lehnt sich an die Rechtsprechung des EGMR an, etwa zu Fragen wie: In welchen Fällen darf eine Untersuchungshaft angeordnet werden? Wie lange darf diese dauern? Wann und in welcher Form muss ich über die mir vorgeworfenen Straftaten informiert werden? Wann kann ich meine Verteidigung benachrichtigen?
Mit der Justizreform von 2000 setzte sich dann auch die Einsicht durch, dass die grosse Rechtszersplitterung bei 26 kantonalen Straf- und Zivilprozessordnungen Bürgerinnen und Bürger, die ein Gerichtsverfahren anstreben, viel Zeit und Geld kostet und damit deren Rechtsdurchsetzung erschwert. Entsprechend erhielt der Bund die Kompetenz zur Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen, wofür die Rechtsprechung des EGMR den Boden vorbereitete. Heute hat die Schweiz eine eidgenössische Zivil- und Strafprozessordnung, in der so fundamentale Rechte wie das Verwertungsverbot von illegal erworbenen Beweisen und der Anspruch auf eine Pflichtverteidigung verankert sind.
Nach der Ablehnung eines Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum 1992 musste sich die Schweiz europapolitisch neu ausrichten. Dabei erstaunt, dass keine Bestimmung zur EU in die Bundesverfassung von 1999 eingeflossen ist. Das Schweigen war jedoch bewusst gewählt. Politisch konnte man sich nicht auf einen europäischen Zukunftsartikel einigen. So blieb diese Schicksalsfrage unbeantwortet. Sie hat eine Lücke mit Nachwirkungen bis in die Gegenwart hinterlassen. Noch heute stehen die Beziehungen der Schweiz nach dem Scheitern des Rahmenabkommens auf keiner soliden Basis zur EU.
Die CH-Institutionen versuchen, all diese konfligierenden Interessen unter einen Hut zu bringen. Deswegen sind auch alle grossen Parteien im BR vertreten.